Die Galerie der Lügen
Vater des Gedankens. Schnell sagt man, zwei Organe seien homolog, also entwicklungsgeschichtlich verwandt, aber morgen schon mag unter dem Druck neuer Fossilienfunde das Gegenteil behauptet werden. So oder so, es fehlt ihren Deutungen an Beweiskraft, weil Gemeinsamkeiten im Aussehen oder in der Funktion ebenso als › Handschrift ‹ eines intelligenten Konstrukteurs interpretiert werden können, der bei wiederkehrenden Aufgabenstellungen auch zu ähnlichen Problemlösungen greift.«
»Für mich klingt es vernünftiger, dass die Evolution Analogien hervorbringt. Wer sich in die Luft erheben will, braucht eben Flügel. Deshalb hat sie bei Vögeln und Insekten ähnliche Lösungen gefunden.«
»Da sprechen Sie ein für die Darwinisten besonders heikles Thema an. Die zufällige Entstehung komplizierter biologischer Strukturen ist ohnehin sehr unwahrscheinlich. Wenn sie aber analog erscheinen – wofür es in der Natur, wie Sie selbst erkannt haben, unzählige unbestrittene Beispiele gibt –, dann wird die Sache echt problematisch.«
»Falls das stimmt, was Sie sagen…« Darwin kratzte sich am Kopf. »Homologie, Analogie – für einen Ermittler wie mich wäre ein Indiz, das auf völlig unterschiedliche Weise gedeutet werden kann, wertlos. Es ist kein tragfähiger Beweis.«
»Meine Rede. Das Haus des Darwinismus besteht aus einer Menge Mörtel und ein paar Trümmern. Und immer wenn etwas nicht passt, wird es mit einer Ad-hoc-Theorie passend gemacht. Aber wie sagte Cicero so treffend? › Gut gehauene Steine schließen sich ohne Mörtel aneinander. ‹ «
Mürrisch zerbiss Darwin eine weitere braune Schokolinse. »Und Sie meinen, das › Gehirn ‹ will uns Mörtel fressen lassen?«
Daniels musste unvermittelt grinsen. »Ihr bildliches Vorstellungsvermögen gefällt mir.«
»Danke. Was ist also mit Freud?« Er angelte sich eine weitere Pastille.
»Freud führte mit Leidenschaft das menschliche Verhalten – vor allem das Fehlverhalten – auf die Sexualität zurück. Auch die fünf im Gemälde gezeigten Gegenstände lassen sich in seinem Sinne einem Geschlecht zuordnen: Hut und Kerze sind › männlich ‹ , Apfel, Taube und das Blau der Schleife dagegen › weiblich ‹ .«
»Ich dachte immer, rosa sei für die Mädchen reserviert.«
»Wir reden nicht von Stramplern für Babys, Mr Shaw, sondern über Traumdeutung. Da gilt die Farbe des Wassers – blau – als Symbol für das Unterbewusstsein oder die weibliche Seite der Natur.«
»Na gut. Dann haben wir also drei Frauen- und zwei Männerelemente im Magritte. Das wird die Feministinnen freuen.«
»Vergessen Sie nicht das Vorzeichen zur Einbruchsserie: den Hermaphroditen. Das Zahlenverhältnis könnte auch auf eine Person mit sechzig Prozent weiblichen und vierzig Prozent männlichen Geschlechtsmerkmalen hinweisen.«
Darwin verfehlte vor Überraschung mit der nächsten Pastille den Mund. »Ist das Ihr Ernst?«
Seine Gastgeberin betrachtete ihn mit versonnenem Ausdruck auf dem Gesicht. Unvermittelt wandte sie sich dem Fenster zu und sagte: »Nein.«
Überrascht schnappte er nach Luft. »Aber Sie haben doch gerade…«
»Vergessen Sie’ s. Das › Gehirn ‹ hatte wohl kaum Einfluss auf die Bildgestaltung. Es konnte lediglich ein fertiges Gemälde aussuchen. Mir scheint es ergiebiger zu sein, wenn wir uns auf die weitergehende Bedeutung der Symbole konzentrieren. Durch ihre Verbindung mit der Mamorfigur und den gestohlenen Gemälden entsteht die individuelle Handschrift des › Gehirns ‹ , seine eigentliche Botschaft.«
Darwin öffnete die mitgebrachte Ledertasche, zog die Fotografien von den betreffenden Kunstwerken heraus, legte sie nebeneinander auf den Glastisch und griff sich ein braunes M&M.
»Und was lesen Sie darin?« Er ließ seine Hand die Reihe der Bilder abschreiten.
Die Arme vor der Brust verschränkt, näherte Daniels sich dem Tisch. Einen tiefen Atemzug lang blickte sie auf die Fotos. Es war schon fast zu dunkel im Zimmer, um darauf etwas zu erkennen, aber Darwin war überzeugt, dass die Journalistin sehr genau wusste, was die Bilder zeigten. Sie zupfte geistesabwesend eine Haarsträhne im Nacken zurecht und sagte: »Ich behaupte nicht, schon alles zu verstehen…«
»Dann sagen Sie mir, was Sie bisher erkennen konnten.«
»Le dormeur téméraire «, sie deutete auf Magrittes Gemälde vom unachtsamen Schläfer, »ist der Schlüssel. Das Codebuch, wenn Sie so wollen. Von ihm müssen wir ausgehen.«
»Mir kommt das Kunstwerk eher wie
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