Die Galerie der Lügen
Mythos. Wenn das › Gehirn ‹ , das hinter den vier Aktionen steckt, so denken würde, hätte es bestimmt nicht Das Paradies von Cranach ausgewählt. Das Gemälde thematisiert die Kapitel zwei und drei der Genesis, des ersten Buches Mose. Kreationisten nehmen diesen Bericht in allen Punkten wörtlich, obwohl sie sich damit in Widersprüche verheddern.«
»Sie meinen, weil die wissenschaftlichen Datierungsmethoden sagen, dass die Erde älter als zehntausend Jahre ist?«
Daniels drehte sich erneut zu ihm um. »Unter anderem. Die Unstimmigkeiten beginnen aber schon bei der Deutung des Bibelberichts. Im zweiten Vers des zweiten Kapitels der Genesis schreibt Moses, Gott habe am siebten Tag sein Werk beendet und fortan geruht. Nur zwei Verse weiter heißt es jedoch, dies sei die Geschichte der Entstehung des Himmels und der Erde, als sie erschaffen wurden, an dem Tag, an dem Gott Erde und Himmel machte. Wohlgemerkt, in den Urschriften steht hier die Einzahl: › der Tag ‹ . Wenn Moses also einmal von sechs Schöpfungsperioden und gleich darauf von einer einzigen spricht, dann wird deutlich, dass er niemals Vierundzwanzig-Stunden-Tage gemeint haben kann.«
»Sondern?«
»Das weiß kein Mensch. Im neunzigsten Psalm sagt Moses, tausend Jahre seien für Gott wie der vergangene Tag, und im selben Vers fügt er hinzu: › Und wie eine Wache in der Nacht. ‹ Bei den alten Hebräern war die Nachtwache vier Stunden lang.«
»Tausend Jahre wie ein Tag? Oder wie vier Stunden? Kommt mir so vor, als wolle Moses mit den unterschiedlichen Vergleichen nur ausdrücken, dass Gott ein anderes Zeitempfinden hat als wir kurzlebigen Menschen.«
»Gute Schlussfolgerung! Vermutlich wusste er, der Leser assoziiert beim Wort › Tag ‹ einen endlichen und überschaubaren chronologischen Abschnitt, was bei einem Geistwesen, das von Ewigkeit zu Ewigkeit existiert, mit Sicherheit einen wesentlich größeren Zeitraum umfasst als bei uns Menschen. Die Kreationisten versuchen, sich um diese an sich klare Aussage der Bibel herumzuschummeln.«
Darwin fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. Zumindest in einem Punkt deckten sich die Interpretationen der Journalistin mit seinen Ansichten. »Also gut, nehmen wir einmal an, Sie haben Recht und es stecken tatsächlich keine geldgeilen Räuber hinter den Einbrüchen.«
»Gehen Sie davon aus.«
»Meinetwegen. Tun wir einmal so, als hätten wir es mit kreationistischen Terroristen – was für ein Wortungetüm! – zu tun. Welche Absicht steckt hinter ihren Aktionen?«
»Das › Gehirn ‹ will durch die Auswahl der Bilder zu uns sprechen.«
»Sie erwähnen schon zum zweiten Mal diese Formulierung: das › Gehirn ‹ . Entschuldigung, aber das klingt so… abstrakt.«
»Ich versuche mich nur von ihm abzugrenzen«, antwortete Daniels postwendend.
Darwin kam es so vor, als ob sich da eben ihre Gefühle am Verstand vorbeigedrängt hatten. Während er die Worte der jungen Frau auf sich wirken ließ, griff er gedankenverloren nach der Schale mit den M&Ms. Er pickte sich ein braunes Exemplar heraus und steckte es sich in den Mund. Als die Zuckerkruste über der Schokolade geräuschvoll zerknackte, sah er seine Gastgeberin erschrocken an.
»Entschuldigung, ich hätte erst fragen müssen, ehe…«
»Dazu sind sie ja da«, unterbrach sie ihn. »Warum haben Sie ausgerechnet das Braune ausgewählt?«
Darwin zuckte die Achseln. »Weiß nicht. Vielleicht weil ich mir einrede, es hätte weniger Farbstoff.«
Er bemerkte den Anflug eines durchaus bezaubernden Lächelns auf ihren Lippen, der jedoch schnell wieder verschwand. An seine Stelle trat das verlegene Herumzupfen an den blonden Strähnen. Er räusperte sich. »Wieso glauben Sie, sich von dem Planer der Aktionen › abgrenzen ‹ zu müssen?«
Die junge Frau wandte ihm wieder ihren Rücken zu und sprach zur Fensterscheibe: »Sagen wir, ich will nicht wie der sein, für den Sie und die Polizei mich gehalten haben.«
Irgendwie stellte diese Erklärung Darwin nicht zufrieden. Er besaß jedoch genug Erfahrung, um zu wissen, dass man einen unwilligen Zeugen nicht ohne Not in die Enge treiben sollte. »Na gut«, lenkte er ein, »dann nennen wir unser Phantom von nun an das › Gehirn ‹ . Trauen Sie sich zu, seine… Piktogramme lesen zu können?«
»Ja.«
»Warum gerade Sie?«
Daniels’ Blick spazierte irgendwo in den Rochester Mews umher. »Weil ich mich seit Jahren mit den Argumenten der Leute beschäftige, die der großen Frage nachgehen: Wo
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