Die Galerie der Lügen
Meinetwegen schreiben Sie weiter Ihre Artikel. Ich müsste allerdings mit meinem Boss drüber reden.«
»Sagen Sie ihm, ich würde Ihnen helfen, sich in die Köpfe Ihrer Gegner zu begeben.«
»Mach ich.«
»Ich muss Sie allerdings warnen, Mr Shaw.«
»Wovor?«
»Wenn Sie dem Weg folgen, auf den ich Sie führe, dann sind Sie ein Goldfisch in einem Haifischbecken. Man könnte versuchen, Ihren Ruf zu zerstören und Ihnen unlautere Motive zu unterstellen. Wenn Sie Glück haben, bezeichnet man Sie als Narren, möglicherweise sogar als debil, aber wenn es schlecht für Sie läuft, dann wird man Sie in aller Öffentlichkeit als Gefahr für die Gesellschaft brandmarken.«
»Sie machen Witze. Außerdem, wenn Sie mir auf diesem Weg vorangehen, dann treffen alle diese Dinge doch genauso auf Sie zu.«
»Da haben Sie Recht, Mr Shaw. Möglicherweise gibt es zwischen uns nur einen kleinen Unterschied: Ich weiß, worauf ich mich einlasse. Und wie hat George Bernard Shaw doch so treffend gesagt? › Du kannst nicht Schlittschuhlaufen lernen, ohne dich lächerlich zu machen. Auch das Eis des Lebens ist glatt. ‹ «
Wieder herrschte Stille am anderen Ende der Leitung. Nach einer Weile sagte der Detektiv: »Ich bin es gewohnt, Risiken einzugehen. Machen wir uns ans Werk, Ms Daniels!«
Alex atmete tief durch. »Dann ist unser Pakt der Logik also besiegelt?«
»Pakt der…? Wenn Sie es so nennen wollen. Ich spreche mit meinem Boss und melde mich wieder bei Ihnen.«
»Viel Erfolg, Mr Shaw.«
Alex verabschiedete sich und legte auf. Einige Sekunden lang starrte sie auf das Foto ihrer Adoptiveltern auf dem Schreibtisch, ohne es wirklich zu sehen. Während des Gesprächs mit Shaw hatte sie das Bedürfnis verspürt weiterzusprechen, ihre ganze Wut auf die sie umgebende Ignoranz herauszulassen und ihn in den großen Plan einzuweihen, den sie hinter den Museumseinbrüchen vermutete. Aber dann kamen ihr die Worte Einsteins in den Sinn, die sie viel zu oft in den Wind geschlagen hatte: »Wenige sind imstande, von den Vorurteilen der Umgebung abweichende Meinungen gelassen auszusprechen; die meisten sind sogar unfähig, überhaupt zu solchen Meinungen zu gelangen.«
Sie musste ihren Eifer zügeln. Darwin Shaw war noch nicht bereit, aus der Schafherde auszubrechen.
In einem entlegenen Winkel ihres Herzens wünschte sie sich sein Verständnis. Wohl auch deshalb hatte sie ihn mit ihrer Forderung konfrontiert. Es war ein Test. Wenn er sie nur für eine Spinnerin hielt, würde er sie einstweilen in Ruhe lassen und seinen Fall anderweitig zu lösen versuchen.
Wie auch immer, sie hatte vorerst Zeit gewonnen, um jener Frage nachzugehen, die ihr Denken wie ein Mahlstrom in ein dunkles Zentrum saugte: Wer war Terri Lovecraft?
Alex legte das »Feigenblatt« auf den Tisch zurück, mit dem sie ihre Blöße bedeckt hatte. Verständnislos schüttelte sie den Kopf. Ihr Unterbewusstsein hatte sie stärker im Griff, als sie sich eingestehen wollte. Sie erhob sich aus dem Drehstuhl und trat den Rückweg ins Schlafzimmer an.
Aus den Augenwinkeln nahm sie auf dem Flur die Familienfotos an der »Gedenkwand« wahr, ein Relikt aus der Zeit vor der großen Verwandlung des alten Stallhauses. Unvermittelt blieb sie stehen und musterte die Bilder, die wie Krokusse im Schnee über den weißen Rauputz verteilt waren.
Mindestens zwei Dutzend der größtenteils bunten, vereinzelt auch schwarz-weißen Bilder hingen da in braunen und schwarzen Holzrahmen. Fast immer waren darauf die gleichen Personen zu sehen: Alex und ihre Eltern in verschiedenen Lebenslagen und -abschnitten: süßer Fratz auf Krabbeldecke, Trauermiene zur Einschulung, vergnügliche Kanufahrt auf dem schottischen Loch Venachar, gute Miene zu verkohlten Steaks beim Barbecue und vieles mehr.
Die meisten Fotos stammten aus Alex’ Kindertagen, drei oder vier aus ihrer Sturm-und-Drang-Periode; damals hatte sie sich unter dem Eindruck der beunruhigenden Veränderungen ihres Körpers selbst verloren (und sie sammelte immer noch die Scherben ihrer zerborstenen Seele ein). Unvermittelt blieb ihr Blick an einem der ältesten Fotografien der Gedenkwand hängen.
Es war ein Gruppenbild im Querformat: Eine Gesellschaft von Anglern hielt stolz ihren dürftigen Fang in die Kamera, sieben Gesichter, am linken Rand, eher klein und unbedeutend, ihr Vater. Soweit Alex sich an dessen Erzählungen erinnerte, war das Foto bei einem Betriebsausflug in Schottland aufgenommen worden. Sie hatte ihn nie gefragt, wie die
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