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Die Galerie der Lügen

Titel: Die Galerie der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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ihr trotzdem Spaß.
    Weil der Hauptberufsverkehr bereits abgeebbt war, schaffte sie die knapp neun Meilen in weniger als fünfundvierzig Minuten. Maitland Close war, wie der Name schon sagte, eine »geschlossene« Straße, eine Sackgasse, die in einer kleinen Straßenschleife mündete. Mehr noch als in Camden Town begegnete man hier, in Greenwich, auf Schritt und Tritt dem viktorianischen Erbe der Stadt.
    Alex parkte ihren Wagen direkt vor dem Haus Nummer sieben. Es bestand wie die meisten hier aus rotem Backstein. An der blau lackierten Tür stand ein goldenes Namensschild, dessen Gravur die erste Enttäuschung bot.
    »Atkinson?«, murmelte sie. Eigentlich überraschte es sie nicht wirklich, dass sich ihre Vergangenheit nicht wie eine morsche Walnuss knacken ließ. Ihr war ziemlich flau im Magen. Abgesehen von einem Besuch im Dungeon – kein wirklicher »Kerker«, sondern Londons größtes Horrorspektakel – konnte sie sich nur wenig Schrecklicheres vorstellen, als wildfremde Menschen anzusprechen. Nach gebührendem Zögern drückte sie trotzdem den Klingelknopf.
    Eine Frauenstimme drang aus dem Haus. Alex zog ihre schwarze Lederjacke gerade, kontrollierte den Sitz der Kappe, die sie immer beim Offenfahren als Wind- und Sonnenschutz trug, und nahm ihre dunkle Sonnenbrille ab.
    Die blaue Tür schwang auf. Eine junge Frau mit Baby auf dem Arm sah die Besucherin fragend an. Im Flur hinter ihr standen Umzugskartons.
    Alex stellte sich vor und kam sogleich zur Sache.
    Das eben noch freundliche Gesicht der Mutter verdüsterte sich. »Terri Lovecraft? Sind Sie von der Polizei?«
    »Nein. Warum?«
    »Weil die erst vor zwei Tagen hier herumgeschnüffelt haben. Presse?«
    »Auch nicht. Es geht um eine… Familienangelegenheit.«
    »Hm. Wir sind erst am 1. Oktober eingezogen. Ging alles ziemlich drunter und drüber.«
    Alex nickte verständnisvoll. »Terri Lovecraft ist am Freitag, den 7. September verunglückt. Wie kam es, das Sie so schnell einziehen konnten?«
    »Wir haben die Anzeige in der Zeitung gesehen und uns gemeldet.«
    »Bei Verwandten?«
    »Nein, ging alles über einen Makler.« Das Kind begann zu quäken.
    »Dürfte ich seine Adresse oder wenigstens seinen Namen erfahren?«
    »Der Mann heißt Stenning, Graham Stenning. Hat sein Büro in der Lewisham Road, nicht weit von hier. Nummer vier, wenn ich mich richtig erinnere. Sie können es nicht verfehlen. Ist direkt gegenüber dem Friendly Place.«
    Alex notierte die Adresse. Unterdessen fing das Kind an zu brüllen. Trotzdem fragte sie Mrs Atkinson, ob sie nicht vielleicht doch von irgendwelchen Angehörigen oder Freunden der Verblichenen wisse.
    Mrs Atkinson schüttelte den Kopf. »Tut mir Leid, nein. Ich muss jetzt auch mein Schneckchen füttern.« Sie küsste das Baby auf den runden Kopf.
    »Danke für Ihre Hilfe.«
    »Keine Ursache. Viel Erfolg bei Ihrer Suche.«
    »Den kann ich gebrauchen.«
    Die blaue Tür schloss sich wieder. Das Schreien des Kindes verebbte in den Tiefen des Hauses.
    »Schneckchen?«, wiederholte Alex. Auf was für Kosenamen manche Leute für ihre Liebsten kamen! Sie setzte wieder ihre Brille auf und ging zum Nachbarhaus.
    Ein Greis von mindestens achtzig Jahren erhörte ihr Klingeln. Als sie ihre Sonnengläser abnahm, wurde er kreidebleich und warf die Tür ohne Abschiedswort ins Schloss.
    Benommen versuchte Alex zu verstehen, was da eben geschehen war. Der Alte hatte ausgesehen, als habe er einen Geist erblickt… Genau so war es! Schlagartig wurde ihr klar, was der Nachbar gesehen hatte.
    Das lächelnde Gesicht eines Wiedergängers.
    Weil sie als lebende Tote nicht noch mehr Leute erschrecken wollte, zog Alex ihre Ballonmütze tiefer in die Stirn und behielt von nun an die schwarze Sonnenbrille auf.
    Die Verbesserung, die sie damit erzielte, war marginal. Jetzt erschreckte nicht mehr ihr Gesicht die Bewohner von Maitland Close, sondern der nachgefragte Name. So verwandelte sie mit dem Zauberspruch »Terri Lovecraft« an den nächsten sechs oder sieben Türen die freundlichsten Leute in bissige, unhöfliche und taktlose Zeitgenossen. Feindseliges Verhalten als Ausdruck von Hilflosigkeit und Furcht war ihr durchaus vertraut, meist aber auf schriftlichem Wege, etwa durch polemische Artikel in Zeitschriften oder in Form unappetitlicher E-Mails. Was sie hier auf der Suche nach ihrer Doppelgängerin erlebte, besaß eine ganz neue Qualität.
    Weil Alex nicht die mentale Widerstandsfähigkeit von Jehovas Zeugen besaß, erlahmte ihr Kampfeswille

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