Die Galerie der Lügen
Firma oder das Institut hieß. Überhaupt war ihr die Aufnahme nie besonders wichtig erschienen, weil die fremden Leute sie nicht sonderlich interessierten. Aus sentimentalen Gründen hatte sie das Bild trotzdem an seinem Platz gelassen.
Erst jetzt, wo sie sich an Darwin Shaws Frage nach der beruflichen Vergangenheit ihrer Eltern erinnerte, erwachte ihre Neugierde für die unbekannten Gesichter. Langsam schritten ihre Augen das Spalier der Angler ab. Bei Nummer vier in der Reihe hielt sie plötzlich inne. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Rasch nahm sie das Bild von der Wand und ging damit in ihr Schlafzimmer, um es im Tageslicht betrachten zu können. Es war empfindlich kühl, weil das Fenster immer noch offen stand, aber Alex spürte die Kälte nicht. Als hätte ein neuzeitlicher Künstler einen skurrilen weiblichen Akt aus weißem Marmor geschaffen und viel Liebe in die Ausgestaltung der Gänsehaut gelegt, stand sie unbeweglich vor dem Fenster, den braunen Holzrahmen auf Bauchhöhe in beiden Händen haltend, den Blick unverwandt auf das Gesicht im Foto gerichtet.
Der Mann sah aus wie sie.
Früher war ihr diese Ähnlichkeit nie aufgefallen.
Verständlich, machte sie sich klar. Man hatte sie ja erst während des Studiums den »David Bowie von Goldsmiths« genannt. Zu dieser Zeit interessierten sie weder die verstaubten Familienfotos im Flur noch der exzentrische Musiker aus Brixton. Sie konnte nicht singen, und das Gitarrespielen hatte sie aufgegeben, nachdem sie am ersten Song – Cat Stevens Father and Son – kläglich gescheitert war. Für einen jungen Menschen an der Schwelle ins neue Millennium war die Vorstellung nicht besonders reizvoll gewesen, mit dem dreißig Jahre alten Abziehbild einer Popikone verglichen zu werden.
Nummer vier hätte ein Bruder von David Bowie sein können.
»Oder mein Vater?«, flüsterte sie.
In diesem Moment klingelte im Arbeitszimmer abermals das Telefon. Alex erschrak derart heftig, dass ihr der Rahmen aus der Hand rutschte. Sie schnappte zwar danach, war aber noch zu benommen, um ihn wieder einfangen zu können. Krachend prallte er auf den Parkettboden. Das dünne Glas und der Rahmen zerbrachen.
»Mist!«, entfuhr es ihr, und während sie noch auf ihre nackten Füße inmitten der Scherben starrte, läutete das Telefon zum zweiten Mal.
Sie ging in die Knie und brachte sich mit einem Hechtsprung auf das Bett. Schnell rollte sie über die Matratze auf die andere Seite und trat von dort einmal mehr den Weg ins Büro an.
»Hallo?« Diesmal war sie vorsichtiger.
»Na, endlich.«
»Susan?«
»Wer sonst? Warum ist deine Leitung besetzt, wenn du einen Anruf von deiner besten Freundin erwartest?« Die Reporterin klang verärgert.
Ist sie eifersüchtig?, fragte sich Alex. »Entschuldige, aber ich konnte diesen Versicherungsdetektiv von ArtCare nicht so schnell abwimmeln. Hast du die Adresse?«
»Ja. Terri Lovecraft hat in Greenwich gewohnt, nur ein paar Autominuten von der Unfallstelle entfernt. Hast du was zum Schreiben?«
Alex griff sich einen Filzstift und den Notizzettel, der ihr zuvor als »Feigenblatt« gedient hatte. »Bin bereit.«
»Die Adresse lautet 7 Maitland Close. Die Kollegin, die damals den Bericht geschrieben hat, sagt, du musst von der Greenwich High in die Langdale Road abbiegen. Rechts geht’s dann in die Sackgasse hinein, in der du ihr ehemaliges Haus findest.«
»Danke, Susan. Du bist ein Schatz.«
»Schön, das auch mal aus deinem Mund zu hören. Wegen der DNA-Analyse melde ich mich, sobald es was Neues gibt.«
Die beiden verabschiedeten sich.
Mit Handfeger und Müllschaufel bewaffnet kehrte Alex ins Schlafzimmer zurück. Inzwischen war es darin eisig kalt. Sie kleidete sich an, schlüpfte in ihre Hausschuhe und kümmerte sich um die am Boden liegenden Glasscheiben. Die großen sammelte sie mit spitzen Fingern auf, die kleineren kehrte sie zusammen. Mit einem Mal stutzte sie. Das Foto war verschwunden.
Sie blickte zum offenen Fenster, von wo aus der Herbstwind immer wieder einzelne Böen ins Zimmer schickte. Ein Luftstoß musste das Bild irgendwo unter eines der Möbel geweht haben. Alex schüttelte den Kopf. Darum konnte sie sich immer noch kümmern. Wichtiger war jetzt ihre Doppelgängerin.
Das Cabrio rollte mit dröhnender Stereoanlage durch Greenwich. Alex wusste, dass sie sich manchmal wie ein Halbstarker aufführte, der die Mädchen auf der Straße mit Daddys schwarzem Mini Cooper S zu beeindrucken versuchte, aber es machte
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