Die Galerie der Lügen
entschlossen in sein Gesicht. »Ja, danke, Mr Shaw. Bitte gehen Sie jetzt.«
Kapitel 7
»Wir können das Arsenal der Waffen nicht aus der Welt schreiben, aber wir können das Arsenal der Phrasen, die man hüben und drüben zur Kriegsführung braucht, durcheinander bringen.«
Max Frisch
LONDON (ENGLAND),
Mittwoch, 3. Oktober, 8.05 Uhr
Wenn das Leben sich immer schneller um einen dreht, dann ist es um so wichtiger, still stehen zu bleiben. Wie ein Mantra wiederholte Alex die Weisheit ihrer Mutter, um ihr inneres Gleichgewicht zu bewahren. Sie saß, frisch geduscht, im Schneidersitz auf ihrem Ledersofa. Ihre Muskeln brannten vom Morgenlauf durch den Regent’s Park. Mit glasigem Blick starrte sie in die Dunstwolken, die dem Teebecher auf dem Tisch entstiegen, und wartete darauf, dass der Tornado in ihrem Kopf sich legte.
Bilder aus ihrer Kindheit und Jugend – betretenes Schweigen, Lügen, Arztbesuche und immer wieder das Monsterding – wirbelten darin durcheinander mit den jüngsten Eindrücken – Terri Lovecrafts Gesicht in der Zeitung, die Wärterinnen im Gefängnis, Darwin Shaw, die mysteriöse Gestalt im Regen…
Sie hatte die vermummte Person schon früher gesehen, wusste aber nicht, was dieses »Früher« bedeutete. Bereits während des Gesprächs mit dem Versicherungsdetektiv war der Regenmantel an ihrem Fenster vorübergeglitten. Für die Dauer eines Wimpernschlags hatte sie in den Schatten unter der Kapuze ein Gesicht erblickt, nur von der Seite und viel zu kurz, um es mit den im Gedächtnis abgelegten Blaupausen zu vergleichen. Aber auch zu lang, um nicht einen Schauder zu spüren.
Wie beschreibt man das Gefühl, jemanden zu erkennen, dem man noch nie begegnet ist?
Sie hatte den feucht glänzenden Regenmantel verfolgt, bis er aus ihrem Blickfeld verschwunden war. Ein absurder Gedanke flatterte durch ihren Sinn: Das Fenster deines Wohnzimmers ist wie das Gemälde von Rene Magritte – es zeigt dir nur scheinbar die Realität, aber hinter den Formen, die du wahrnimmst, verbirgt sich eine andere Wirklichkeit.
Die bekannteren, auf vielen Postkarten abgedruckten Gemälde des belgischen Malers zeigten einen Mann im Mantel mit Bowler auf dem Kopf, manchmal von hinten, dann wieder von vorn mit einer Taube oder wie im Le fils de l’ homme – dem »Sohn des Mannes« – mit einem Apfel vor dem Gesicht. Ebenso wie die Taube waren auch Apfel und Hut Traumsymbole. Die Frucht spielte auf die Brust der Frau an, die aufstrebende Kopfbedeckung auf das erigierte Geschlecht des Mannes. Alex ahnte, warum das »Gehirn« eine Affinität für den belgischen Maler besaß, aber warum hatte die Gestalt im Regen…?
Sie verdrängte zum wiederholten Mal den aberwitzigen Gedanken, der ihr fast die ganze Nacht hindurch den Kopf vernebelt hatte.
Ja, den Kopf. Der Hut hatte nämlich über die sexuelle Bedeutung hinaus noch eine weitere. Er schützte den Kopf, den Sitz der Gedanken, die gebündelten Ideen, die seinem Träger durch den Sinn sch o ssen. Er verkörperte die Absichten, Erwartungen und Meinungen, die der Träumer vor anderen verbirgt…
Aber die Gestalt auf der Straße hatte ihren Hut in der Hand gehalten.
Die Melone war trotzdem nass geworden. Es muss eine Botschaft gewesen sein, dachte Alex. Aber welche? Es hieß, wenn im Traum ein Hut vom Wind fortgeweht wird, zerschlagen sich Hoffnungen und Pläne. Die Person im Regenmantel hatte ihren Hut jedoch festgehalten. Das konnte nur eines bedeuten: Ich zeige dir meine Gedanken.
Doch die Gestalt war fortgelaufen.
Offenbar nicht vor ihr, Alex Daniels, sondern vor Darwin Shaw, der sich dicht hinter sie gestellt hatte. Wie ein besorgter Freund. Wie ein Geliebter…?
Als sie vor der Tür so dicht zusammenstanden, hatte sie das Gefühl gehabt, er wolle sie berühren, hatte zuerst zurückschrecken wollen, wie sie es immer tat, wenn andere Menschen ihr zu nahe kamen. Aus irgendeinem Grund war sie dennoch stehen geblieben. Trotz des Regens hatte sie seine Wärme zu spüren geglaubt. Eine verwirrende Wahrnehmung, die…
Alex schüttelte den Kopf. Sie wusste nicht, was sie denken sollte. Unmögliches zu wünschen ist wie der Versuch, den Wind zu erh a schen. Man lässt es lieber bleiben. Es führt zu nichts.
Sie griff zum Hörer des Telefons, das neben ihr auf dem Sofa lag, und wählte die Nummer eines Handys.
»Susan Winter hier?«
»Alex. Guten Morgen. Bist du schon im Büro?«
»Morgen, Schatz. Bin gerade erst aus der U-Bahn
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