Die Galerie der Lügen
ließen sie so gut wie nie mit den anderen Kindern spielen. Er…«
»Verzeihung, Mrs Axelrod, wenn ich Sie schon wieder unterbreche…« Alex schloss einen tiefen Atemzug lang die Augen, um sich zu sammeln. Sie hatte das Gefühl, alles um sie herum würde sich drehen. »Sie haben eben von Terri gesprochen, als wäre es ein Junge gewesen.«
Die Witwe sah sie verwundert an. »Na, war er ja auch. Dachten wir zumindest. Soll ja ab und zu vorkommen, dass so versponnene Leute sich einen Jungen wünschen, obwohl sie ein Mädchen haben. Sie nehmen ihm die Puppen weg und geben ihm Autos zum Spielen.«
»Und so etwas haben die Lovecrafts mit der kleinen Terri gemacht?«
»Muss wohl. Jedenfalls hat der hübsche Junge mit einem Mal Knospen unter dem Hemdchen bekommen. Irgendwann war der Busen dann nicht mehr zu vertuschen. Da haben sie aus dem kleinen Terry eine Terri gemacht. Er war ein paar Wochen wie vom Erdboden verschluckt, und als er wieder auftauchte, ging er nur noch im Kleidchen zur Kirche.«
»Und dieser andere? Sein Cousin?«
»Der kreuzte so ungefähr vor drei Jahren auf. Jedenfalls habe ich ihn da zum ersten Mal gesehen. War Terris Ebenbild, nur als Junge. Zart gebaut. Sehr hübsch! Irgendwas ist dann mit Terri passiert. Ich habe sie manchmal früh morgens stockbetrunken nach Hause kommen sehen. Vielleicht waren’s auch Drogen. Eines Tages fing sie an, sich ihrem Freund anzupassen: kurzer Haarschnitt, schwarze Ledersachen…«
Unvermittelt verstummte Mrs Axelrod. Argwöhnisch blickte sie an der Besucherin herab. »Warum wollen Sie das eigentlich alles wissen?«
Alex lächelte so gewinnend wie möglich. »Ich vertrete die Interessen der Hingeschiedenen.«
»Eine Rechtsanwältin?«
»So etwas Ähnliches. Ich…« Alex verstummte, weil jemand hinten an ihrer Lederjacke gezogen hatte. Sie drehte sich um. Da sie immer noch auf der Treppe stand, die zum Hauseingang hinaufführte, musste sie nach unten schauen, um dem kleinen Jungen ins Gesicht zu sehen, der sie mit nach hinten geneigtem Kopf ansah. Seine Hände hielt er hinter dem Rücken versteckt. Er war vier oder fünf Jahre alt und hatte eine Million Sommersprossen im Gesicht.
»Wer bist denn du?«, fragte Alex freundlich.
Der Kleine antwortete nicht.
»Wohnst du hier?« Sie deutete in Richtung Haustür.
Der Zwerg blieb stumm.
Alex vermutete, dass er sich vor der Sonnenbrille fürchtete, und nahm sie ab.
Die Wirkung war verblüffend. Der Junge streckte ihr den rechten Arm entgegen. In seiner Hand hielt er ein gefaltetes Blatt Papier.
»Ist das für mich?«, fragte Alex erstaunt.
Keine Antwort. Nur die Hand mit dem Zettel reckte sich ihr noch energischer entgegen.
Sie nahm ihn entgegen. »Danke, kleiner Mann. Wer hat dir…?«
Der Zwerg fuhr auf dem Absatz herum und rannte davon.
Alex schüttelte den Kopf. »Haben Sie so etwas schon mal erlebt, Mrs Axelrod? Kennen Sie den…?«
Hinter ihr krachte die Tür ins Schloss.
Verwirrt blickte sie auf die Gegenstände in ihren Händen: Rechts hielt sie den Zettel, links die Sonnenbrille – ihr Gesicht musste Mrs Axelrod nach Abnehmen der Gläser genauso verschreckt haben wie zuvor die anderen Nachbarn. Alex faltete das Blatt auseinander. Mit unübersehbar weiblichen Schwüngen war eine kurze Nachricht darauf notiert.
Sie suchen Terris Mutter? Kommen Sie morgen bei Sonnenaufgang zum Flamsteed House im Greenwich Park. Das Tor wird angelehnt sein.
Es war eine Mischung aus Argwohn und Euphorie und Ungewissheit. Alex hätte ihre Gefühle nicht in einem einzigen Wort ausdrücken können, außer vielleicht mit der Vokabel »chaotisch«. Während sie in ihrem Mini Cooper wieder Richtung Camden Town fuhr, überschlugen sich die Fragen in ihrem Kopf. Warum schickte jemand einen kleinen Jungen mit einem Zettel los, anstatt selbst zu kommen? Stammte die Nachricht von Terris Mutter? Weshalb diese konspirative Verabredung im Greenwich Park, am Royal Observatory? Bei Sonnenaufgang! Das hörte sich an wie die Einladung zu einem Duell in einem Mantel-und-Degen-Film. Der Gedanke, der Alex jedoch am meisten beschäftigte, versetzte sie in eine Hochstimmung, die einem Rausch gleichkam.
Wenn sie und Terri Geschwister waren, würde sie dann in weniger als vierundzwanzig Stunden zum ersten Mal ihre richtige Mutter treffen?
Als Alex in die Rochester Mews einbog, erlebte sie eine Überraschung. Vor ihrem Haus stand ein traumhaftes Cabriolet, ein englischgrüner TVR Griffith. Das Verdeck war geschlossen. Im Wagen
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