Die Galerie der Lügen
wir Vermehrung,
Auf dass der Schönheit Rose nie vergeh’.
Spüren Sie, welche Kraft in seiner Sprache liegt? Und doch: So gewichtig die Worte des Dichters auch sein mögen, machen sie das von ihm beschriebene Pergament doch nicht schwerer, als hätte er mit gleicher Tinte irgendeinen Kinderreim abgeschrieben. Die Informationsträger sind materiell, aber das Gedicht kümmert es nicht, wie es an unsere Welt gebunden ist. In dem Moment, als Shakespeare es erdachte, war es da und bezeugte seinen Genius. Das Sonett lässt den Materialismus wie eine Seifenblase zerplatzen. Ganz ähnlich übrigens unsere DNA: Sie kommt mit nur vier verschiedenen Buchstaben aus – den Basen, aus denen jedes Gen zusammengesetzt ist –, aber mit diesem Alphabet wird das Leben auf unserem Planeten in all seiner Vielfalt beschrieben.«
Shaw lenkte seinen Sportwagen links in den Hendon Way. »Na ja, aber das ist doch wohl eher ein technischer Vorgang.«
»Es ist mehr als das. Sagt Ihnen der Begriff › Präformationslehre ‹ etwas?«
»Nie gehört.«
»So nannte man die sich bis zur Mitte des achtzehnten Jahrhunderts haltende Vorstellung, ein Individuum sei im Samen bereits vollständig ausgebildet. Demnach wäre die Entwicklung des Kindes tatsächlich, wie Sie sagen, ein › technischer Vorgang ‹ , so als würde man das im Keim des Vaters eingeschachtelte Wesen mittels einer Lupe auf normale Größe bringen.«
»Wo bleibt da eigentlich die Mutter?«
»Die war nach Ansicht der Präformations-Anhänger nur der Brutkasten, für die Vererbung von Eigenschaften unerheblich.«
»Heute sind wir schlauer.« Der Griffith bog links in die North Circular Road ein. Die Auffahrt zur Schnellstraße lag jetzt direkt vor ihnen.
Alex betrachtete nachdenklich Shaws Profil. »Glauben Sie? Die Vertreter der Präformation haben seinerzeit neue Ideen, deren Richtigkeit inzwischen bewiesen ist, verbissen und oftmals ziemlich unfair angegriffen. Das gleiche intolerante Verhalten legen heute Darwinisten gegenüber Andersdenkenden an den Tag.«
»Wenn ich mich nicht irre, drohen die Kreationisten ihren Gesinnungsgegnern mit feurigen Höllenqualen. So viel zum Thema Toleranz.«
Der Hieb hatte gesessen. Ein wenig zerknirscht erwiderte Alex: »Mir geht es seit eh und je gegen den Strich, dass einige Fundamentalisten mit ihren religiösen Extrempositionen die ganze Theorie des Intelligent Design in Verruf bringen. Radikaler Dogmatismus ist in jedem Fall zu verurteilen, ganz gleich, ob er unter dem Banner von Darwinisten, Kreationisten, Präformisten oder sonst wem marschiert. So wie die Einschachtelungslehre sich letztlich als Irrtum herausgestellt hat, könnte es auch anderen ergehen.«
»Im achtzehnten Jahrhundert war man in mancher Hinsicht noch ahnungslos. Unwissenheit verleitet zu Spekulationen. Heute leben wir im Zeitalter des Human Genome Projects. Wir haben das menschliche Erbgut entschlüsselt.«
»Ja, wir kennen die drei Milliarden Basenpaare, aus denen unsere DNA besteht, aber wie sich daraus ein Mensch entwickelt, wissen wir immer noch nicht. Als ich die Präformationslehre erwähnte, ging es mir weniger um ein Paradebeispiel für Starrköpfigkeit…«
»Sondern?«
»Ich wollte Ihre Aufmerksamkeit auf die immateriellen Komponenten des Universums lenken.«
»Sie meinen unsere DNA?«
Alex nickte. »Sie ist kein Do-it-yourself-Buch, in dem Sie den Bauplan für eine Mausefalle finden.«
Shaw drückte aufs Gaspedal. Der Achtzylinder brachte das Cabrio mit kernigem Grollen auf Touren. »Sie können wirklich hartnäckig sein, Ms Daniels. Das Mausefallenbeispiel habe ich verinnerlicht. Mir ist auch klar, was Sie meinen: Die Information an sich übt keine Funktion aus, sie muss erst in eine Konstruktion umgesetzt werden, um ihren Zweck zu erfüllen. Ein schönes Stichwort, um auf die gestohlenen Gemälde und ihre Botschaft zu kommen. Sie sagten, die Serie könne auf insgesamt sieben Einbrüche hinauslaufen.«
Diesmal hatte er es geschafft, sie mit seinem Themenwechsel aus dem Konzept zu bringen. Alex nickte.
»Was erwartet uns nächsten Sonntag?«
»Ich weiß es nicht.«
»Sie haben unser kleines Abkommen doch als › Pakt der Logik ‹ bezeichnet – gibt es keinen folgerichtigen nächsten Schritt, der aus den vorhergehenden abgeleitet werden kann? «
»Sicher gibt es den.«
Shaw schaltete in den fünften Gang. Der Motor blubberte jetzt nur noch sanft vor sich hin. »Würden Sie ihn mir verraten?«
»Das Hirn will die Lügen eines
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