Die Galerie der Nachtigallen
Gemurmel, Getuschel und Gelächter zu
ignorieren, während er durch die Straßen zur London
Bridge und hinüber nach Southwark ritt. Er dachte an den
Überfall, fürchtete sich aber nicht. Gefahr von einem
Straßenräuber oder einem lautlosen Meuchelmörder
drohte immer. Hier in seiner Kirche oder drüben auf der
anderen Seite des Flusses. Athelstan zügelte sein Pferd vor
der Kirche von St. Erconwald und dachte noch ein wenig darüber
nach. Plötzlich erkannte er, daß er keine Angst vor dem
Tod hatte. Warum nicht? Wegen seines Bruders? Weil er ein Priester
war? Oder weil er ein reines Gewissen hatte? Dann aber dachte er an
Benedicta, und Zweifel überkam ihn.
An diesem Abend,
während Sir John daheim polterte wie Hektor, der aus dem Krieg
zurückkehrt, fütterte Athelstan sein Pferd und
Bonaventura. Er nahm sich vor, heute nicht auf den Turm zu steigen
und die Sterne zu betrachten. Statt dessen ging er in seine Kirche,
verriegelte die Tür, zündete Kerzen an und trug sie in
seinen kleinen Winkel, wo er sein Schreibtablett auspackte. Er
suchte ein Stück glattes Pergament aus und machte sich daran,
alles aufzuschreiben, was seit ihrem ersten Besuch im Hause
Springall geschehen war. Halb dösend saß er über
seinem Werk, als es laut an der Kirchentür klopfte. Erst blieb
er still sitzen, doch dann wurde ihm klar, daß kein
gedungener Mörder einen solchen Lärm machen würde;
also ging er zur Tür und rief: »Wer ist
da?«
»Rosamund,
Vater.«
Athelstan erkannte die
Stimme. Es war die älteste Tochter von Pike, dem Grabenbauer.
Er öffnete die Tür und spähte hinaus in die
Finsternis. Ein kleines Mädchen mit frischem Gesicht sprudelte
seine Neuigkeit hervor: Die Mutter habe soeben ein Kind zur Welt
gebracht, das fünfte, einen Knaben diesmal. Athelstan
lächelte und murmelte Glückwünsche. Das Mädchen
schaute feierlich zu ihm auf.
»Mutter
wünscht, daß Ihr einen Namen aussucht.« Athelstan
bedankte sich für die große Ehre.
»Sie will einen
Heiligennamen, Vater.«
Athelstan versprach,
zu tun, was er könne, und daß er sie und ihre Familie so
bald wie möglich besuchen werde. Er hörte, wie die Kleine
die Treppe hinunterlief und ihre Schritte verhallten. Er
schloß die Tür und kehrte in seine Nische zurück.
Dort nahm er das Stück Pergament zur Hand und las im
Kerzenlicht, was er geschrieben hatte. Er schüttelte den Kopf;
er war zu müde zum Arbeiten, aber er spürte, daß er
weitermachen mußte, weil er sonst über das nachdenken
würde, was Cranston von Benedicta gesagt hatte.
Müßig fragte er sich, ob die Witwe ihn wohl begleiten
würde. An einem kleinen gemeinsamen Ausflug wäre
schließlich nichts auszusetzen. »Christus hatte auch
Freundinnen«, murmelte er bei sich. Dann fiel ihm die kleine
Rosamund ein, und er ging zum Hochaltar, wo das große
Meßbuch lag. Er klappte es auf und blätterte bis zu der
Seite,wo ein früherer Amtsinhaber die Namen aller Heiligen
aufgeschrieben hatte; in säuberlicher Handschrift hatte er
dazu notiert, welcher von ihnen Patron für welche Gilde,
welches Handwerk, welchen Beruf war. Joseph, sah Athelstan
grinsend, war Schutzpatron der Bestatter und Totengräber. Er
mußte lachen. Joseph von Arimatäa - der einzige, den er
je begrub, war drei Tage später wieder gesund und munter.
Vielleicht nicht der beste Heilige, den die Kirche für eine
solche Profession hatte erwählen können ...
Athelstans Blick
wanderte die Liste hinunter und suchte nach einem geeigneten
Taufnamen. Plötzlich erblickte er einen, der ihn innehalten
ließ. Sein Herz pochte aufgeregt. Er war hellwach. Noch
einmal schaute er auf den Namen, und dann auf das Handwerk, dessen
Patron der Heilige war. War das möglich? War es wirklich
möglich?
Athelstan klappte das
Meßbuch zu. Pike, der Grabenbauer, und seine Familie waren
vergessen. Er kehrte zurück in seine Nische, griff zum
Federkiel und schrieb auf, was er wußte. Er bemühte
sich, seinem Gedächtnis jede Einzelheit zu entlocken, und
wiederholte bei sich, was er Cranston an diesem Tag gesagt hatte.
»Wenn es ein Problem gibt, muß es auch eine Lösung
geben.« Zum erstenmal hatte Athelstan jetzt wirklich einen
Beweis, einen Mosaikstein, der ins Bild passen würde, einen
Schlüssel, der vielleicht alle anderen Geheimnisse
entschlüsseln würde.
Kurz vor Morgengrauen
schlief er ein paar Stunden lang; als er aufwachte, war er
durchfroren und verkrampft, sein Kopf lag auf dem kleinen Tisch,
und sein Körper war irgendwie auf dem
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