Die Galerie der Nachtigallen
Schemel verkeilt. Er
streckte sich, daß die Gelenke knackten, und schaute hinauf
zu dem kleinen Fenster über dem Hochaltar; es würde ein
schöner Tag werden. Er bereitete den Altar für die Messe,
öffnete die Kirchentür und wartete darauf, daß
seine kleine Gemeinde nach und nach hereinkäme. Endlich, als
er schon glaubte, nicht länger warten zu können, sah er
Benedicta lautlos durch das Kirchenschiff kommen und zwischen den
beiden anderen Pfarrkindern am Eingang des Lettners niederknien.
Das elfenbeinerne Antlitz der Witwe, umrahmt von einem Schleier aus
üppigen schwarzen Locken, erschien ihm köstlicher denn
je, und Athelstan richtete ein Dankgebet an den Herrgott für
so viel Schönheit.
Wie gewöhnlich
blieb Benedicta nach der Messe noch da, um vor der Statue der
Jungfrau eine Kerze anzuzünden. Sie lächelte, als
Athelstan herankam und sich leise erkundigte, ob alles in Ordnung
sei.
Athelstan nahm sein
Herz in beide Hände und sprudelte seine Einladung hervor.
Benedictas Augen weiteten sich überrascht, aber sie
lächelte und willigte so schnell ein, daß der Bruder
sich fragte, ob auch sie die Seelenverwandtschaft zwischen ihnen
spürte. Für den Rest des Tages konnte er sich kaum
konzentrieren. Er war hin und her gerissen zwischen der
Zerknirschung darüber, daß er mit seiner Einladung an
Benedicta etwas Unrechtes getan haben könnte, und der Freude
über ihre rasche Zustimmung. Er bewegte sich von einer Pflicht
zur nächsten wie ein Schlafwandler und war so aufgewühlt,
daß er an diesem Abend nicht einmal die Sterne betrachtete,
obwohl der Himmel wolkenlos war. Seine Gedanken wollten nicht zur
Ruhe kommen. Der Schlaf kam nicht. Statt dessen drehte und
wälzte er sich hin und her und hoffte, der Sohn Girth des
Maurers habe Sir John seine Botschaft überbracht, in der er
einen Treffpunkt für den folgenden Tag vorgeschlagen
hatte.
Kurz vor dem
Morgengrauen war der Bruder schon auf den Beinen und las die Messe;
außer Bonaventura und Benedicta war niemand in der Kirche.
Athelstans Freude wuchs, als er sah, daß Benedicta, die ihr
Haar heute zu Zöpfen geflochten hatte und unter einer Haube
verborgen hatte, zur Vorbereitung ihrer Reise nach Smithfield einen
kleinen Korb neben sich stehen hatte. Nach der Messe gingen sie
plaudernd von Southwark über die London Bridge, um sich mit
Cranston und seiner Frau im ›Goldenen Schwein‹ zu
treffen, einem behaglichen Wirtshaus auf der Londoner Seite der
Themse.
Lady Maude, klein und
drall, war munter wie ein Sperling und begrüßte
Benedicta wie eine lange vermißte Schwester. Cranston hatte
schon mindestens drei Becher Wein vertilgt; er war in guter Form,
stieß Athelstan in die Rippen und gaffte Benedicta
wollüstig an.
Nachdem Sir John sich
für erfrischt erklärt hatte, ging es die Thames Street
hinauf zur Schänke >Zum Wamse< am Rande von Smithfield,
unmittelbar zu Füßen der abweisenden Kerkermauern von
Newgate.
Athelstan dachte an
das, was er beim Studium seiner Heiligenliste entdeckt hatte,
beschloß aber, sich Sir John nicht anzuvertrauen. Zu dem
Mosaik gehörten noch andere Steine, und der Ordensbruder zog
es vor, abzuwarten - obwohl er schlechten Gewissens ahnte,
daß Benedictas Anwesenheit mit seinem Zögern mehr zu tun
haben mochte, als recht war.
Der Tag wurde immer
schöner. Die Straßen waren heiß und staubig, und
so war der kleinen Schar die Kühle des Gasthaus es ganz
willkommen. Sie saßen in einer Ecke und schauten zu, wie
Bürger aller Klassen und Stände lärmend
vorüberzogen, eifrig darauf bedacht, sich einen guten Platz zu
sichern, um die Ereignisse des Tages verfolgen zu können.
Kaufleute, die unter ihren Biberfellmützen schwitzten, ihre
fetten Frauen in bunten Gewändern, Bettler, Quacksalber,
Märchenerzähler, Horden von Lehrjungen, ein Mann von den
Gilden. Athelstan stöhnte auf und verbarg sein Gesicht, als
eine Schar seiner Pfarrkinder, angeführt von Ranulf, dem
Rattenfänger, dem schwarzen Clem und Pike, dem Grabenbauer, an
der Schänkentür vorüberzogen und aus vollem Hals ein
schmutziges Lied grölten.
Endlich hatte Cranston
sich seine neuerliche Erfrischung zu Gemüte geführt, und
Athelstan, dessen Herz vor Freude einen Satz tat, als er Benedicta
so nah an seiner Seite spürte, führte sie hinaus auf die
weite Fläche von Smithfield. Drei schwarz angelaufene, von
Krähen zerpickte Leichen hingen noch immer am Galgen, aber die
Menge achtete nicht darauf. Imbißbrater machten brüllend
ihre Geschäfte mit
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