Die Gamant-Chroniken 01 - Das Licht von Kayan
wieder alles gut werden.
»Meine Mommy wird am Leben bleiben«, murmelte sie, »damit sie dem Mashiah heimzahlen kann, was er meinem Daddy angetan hat.«
»Ja«, antwortete Avel, »und um dafür zu sorgen, daß nicht noch andere kleine Mädchen ihre Väter verlieren müssen, so wie du. Sie liebt dich mehr als alles andere auf der Welt.«
Sie lehnte ihre Wange gegen die warme Wolle über Avels Brust und strich nachdenklich die Falten im Stoff glatt. »Sie ist meine beste Freundin.«
»Ja, ich weiß.«
Als Sybil daran dachte, wie traurig der Mashiah sie, ihre Mutter und alle ihre Freunde gemacht hatte, stieg plötzlich heiße Wut in ihr auf. Sie knirschte mit den Zähnen. »Meine Mommy kann alles. Warten Sie nur ab, sie sprengt auch den Palast des Mashiah in die Luft.«
»Jetzt, nachdem ich mit dir gesprochen habe, glaube ich, daß du recht hast. Vielleicht kann sie das ja wirklich tun.«
Sybil fühlte sich besser. Sie lächelte Avel an und stieß einen erleichterten Seufzer aus. Wenn Avel daran glaubte, war es auch für sie leichter. Vielleicht könnte sie jetzt, wo sie alles besser verstand, auch leichter ertragen, für zwei Monate von ihrer Mutter getrennt zu sein. Sie schaute zu Harper hoch. »Avel? Wirst du für mich sorgen, wenn meine Mommy fort ist?«
»Natürlich! Und vielleicht müssen wir auch nicht so hart arbeiten, wie ich zuerst dachte.«
»Müssen wir nicht?«
»Nein, das glaube ich nicht. Vielleicht besuchen wir das Aviarium und schauen den Vögeln zu, statt Mathematik zu lernen. Oder vielleicht bringst du mir bei, wie man Sandburgen baut? Würde dir das gefallen?«
Erleichterung machte sich in ihr breit. »Wir brauchen eine Menge Wasser, und auch etwas Unkraut.«
»Schön, dann wollen wir mal sehen, ob wir etwas finden.«
Als er Anstalten machte, sie auf den Boden zu setzen, klopfte sie ihm begeistert auf die Brust. »Avel, du verstehst kleine Mädchen, nicht wahr?«
Seine Augen nahmen einen abwesenden Ausdruck an. »Ja, ich glaube schon. Ich hatte selbst mal eins – vor langer Zeit.«
»Wirklich? Wo ist sie?«
Sein Gesicht verdüsterte sich, und er preßte die Lippen zusammen. »Sie ist gestorben.«
Sybils Herz hatte Mitleid für ihn, denn tief in ihrem Innern wußte sie, wie er empfinden mußte – so wie sie wegen ihrem Daddy. »Hat der Mashiah sie auch getötet?«
»Nein, aber es ist in Seir geschehen.«
»Das tut mir leid.« Für einen Moment kehrte die Angst zu ihr zurück, doch als sie in sein trauriges Gesicht blickte, kam ihr eine Idee. Sie setzte sich aufrecht hin und strich sich die Strähnen aus der Stirn. »Avel? Ich weiß, es wäre nicht ganz dasselbe, aber vielleicht könnte ich in der Zeit, wenn meine Mommy fort ist, dein kleines Mädchen sein und du mein Daddy?«
Er schaute sie lange an, zog sie dann fest an sich und küßte sie auf die Stirn. »Das würde mir gefallen, Sybil. Das würde mir sehr gefallen.«
Rachel schaute ihnen nach, als sie Hand in Hand hinausgingen, und blickte dann zu Jeremiel hinüber. Er lehnte wie ein träger Tiger entspannt am Tisch, doch seine Augen waren wachsam.
»Ich bin froh, daß Vater Harper sich mit ihr angefreundet hat. Das macht alles einfacher.«
»Hm«, knurrte Jeremiel.
»Was soll das heißen?«
»Hm? Ach, nichts.« Er wandte sich rasch wieder der Karte zu. »Kümmern wir uns wieder ums Geschäft. Erzählen Sie mir, wie das Gelände hier drüben aussieht. Wenn wir …«
»Sie können Harper nicht leiden, stimmt’s?«
Er schaute sie ernst an. Das Kerzenlicht schimmerte golden auf seinen behaarten Armen, als er sie verschränkte. »Mit ›leiden können‹ hat das nichts zu tun. Ich fühle mich einfach … unwohl, wenn jemand in der Nähe ist, in dem ich nicht lesen kann.«
»Sie können ihn nicht durchschauen?«
»Nein. Können Sie’s?«
Sie zuckte die Achseln und strich sich die jadegrünen Ärmel glatt. »Nein, aber er scheint nett zu sein und behandelt Sybil gut. Taten sagen mehr als Worte.«
»Nicht immer.«
»Wieso nicht?«
»Nun, es ist schon etwas Wahres daran, doch oftmals sind andere Dinge weitaus wichtiger als die Taten. Zum Beispiel die Augen eines Menschen. Verstehen Sie, was ich meine?«
»Sie glauben, daß die Augen die wahren Gedanken enthüllen.«
»Genau. Alles, was ein Mensch glaubt und fühlt, spiegelt sich dort wieder. Es sei denn, jemand gibt sich sehr große Mühe, sein Inneres zu verbergen.«
»Und Harpers Augen?«
Jeremiel strich sich nachdenklich über den Bart. Seine blauen Augen
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