Die Gamant-Chroniken 01 - Das Licht von Kayan
Hause Ephraim gehört.«
»Der Zweig des Volkes, aus dem der letzte Mashiah hervorgehen soll?« Zadok rekapitulierte die alten Prophezeiungen, während sein Blick über die staubbedeckten Weinflaschen in der Nische wanderte. Der erste Mashiah stammte von Yosef ab, der zweite aus dem Hause David. Wie die Geschichte lehrte, waren beide im Kampf um das Überleben der Gamanten gestorben. Und der dritte Mashiah sollte aus dem Hause Ephraim kommen. Dieser Erlöser würde das Volk endgültig befreien, besagte die Legende. Zadok wandte seine müden Gedanken dem zu, was Rathanial ihm gerade berichtet hatte. Ein Punkt in dieser Geschichte hatte etwas in ihm zum Klingen gebracht. »Wie war doch gleich der volle Name dieses Mashiah?«
»Adom Kemar Tartarus.«
»Diese Anfangsbuchstaben bedeuten irgend etwas«, grübelte Zadok. »Weißt du vielleicht …?«
»A-K-T? Sie sind auch auf seiner Stirn eingebrannt. Angeblich hat dieser Mann aus Feuer sie bei seiner Geburt dort hinterlassen.«
»Hm.« Wo hatte er schon einmal von diesen Buchstaben gehört? Der weitaus größte Teil der alten Schriften war während der letzten gamantischen Revolte – einer Revolte, die er selbst angeführt hatte – von den Magistraten verbrannt worden. Diese Buchstaben jedoch rührten eine tief in seinem Innern schlummernde Furcht an. »Du hast nicht vielleicht eine Ausgabe der Apokalypse von Daniel? Möglicherweise war es aber auch die Apokalypse von Ezra …«
Rathanial schüttelte den Kopf. »Keines von beiden, fürchte ich. Die Magistraten haben unsere Bibliothek vor hundert Jahren ›gesäubert‹, wie sie es genannt haben. Warum fragst du?«
»Ach, es war nichts von Bedeutung.«
»Vielleicht gibt es auf Tikkun eine Ausgabe. Du könntest deinen Bruder bitten, die Archive zu überprüfen.«
»Das habe ich selbst schon vor ein paar Jahren getan. Vielleicht gibt es überhaupt kein Exemplar dieser Bücher mehr. Ein Jammer, denn gerade sie erzählen eine Menge über die Ankunft des Mashiah und seine Aufgaben.« Er hielt inne, um einen Schluck Wein zu nehmen. »Erzähl mir mehr von Tartarus. Woher kommt er? Was für ein Mensch ist er?«
»Ein eigenartiger Bursche … geboren auf Horeb. Vor vierzehn Jahren, als er gerade fünfzehn war, kamen seine Eltern bei einem merkwürdigen Unfall in den Bergen ums Leben. Die ganze Familie wollte dort picknicken, doch irgendwie lösten sich ein paar Felsen, und die Eltern wurden von einem Erdrutsch verschüttet.«
»Aber der Junge überlebte?«
»Ja. Er behauptet, Milcom, sein Gott, sei direkt vor dem Erdrutsch zu ihm gekommen und habe ihn in die Hügel geführt, wo er ihm eine Reihe von Visionen eingab.«
»Welchen Inhalts waren diese Visionen?«
Rathanial zuckte die Achseln. »Das weiß niemand genau, doch Wochen später kam er aus den Bergen herab und predigte, Epagael sei böse und Milcom gut. Wie er sagt, stehen die beiden in einem ständigen Kampf um die Existenz des Universums.«
»Hat er seit jenem Unfall ständig gepredigt?«
»Ja. Doch erst in letzter Zeit hat er tatsächlich Anhänger gewonnen. Du mußt wissen, Adom war unser Äquivalent des ›stadtbekannten Trunkenboldes‹. Er torkelte in stinkende Lumpen gekleidet durch die Straßen und verkündete pathetisch seine frohe Botschaft, während er in den Abfällen nach Nahrung suchte.«
»Wie traurig«, murmelte Zadok. Was war auf Horeb aus der gamantischen Fürsorge geworden? Der Junge hätte von jemand aufgenommen und vor sich selbst geschützt werden müssen. Zadok rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl herum. »Hat er den Verstand verloren?«
»Manchmal scheint es so. Die Diener in seinem Palast berichten, daß er stundenlang umherwandert, wenn Milcom zu ihm gesprochen hat, mit sich selbst redet und dabei wie ein Verrückter mit den Armen rudert. Doch zu anderen Zeiten scheint er vollkommen normal zu sein. Und genau dann wendet er sich an die Massen.«
»Und beeinflußt sie in seinem Sinne? Interessant. Sein Irresein muß ihm eine magnetische Ausstrahlung verleihen. Derartiges habe ich schon früher bei Geisteskranken erlebt. Dank ihrer Wahnvorstellungen besitzen sie ein so großes Selbstvertrauen, daß sie charismatisch und unbesiegbar erscheinen.«
»Ja, aber er hat kein Gespür für die Bedürfnisse seiner ständig wachsenden Herde. Er …«
»Das hat keiner dieser Propheten. Jeder lebt irgendwo in einer dunklen Ecke seines eigenen Verstandes, ohne Verbindung zur Wirklichkeit. Es ist eine erschütternde Krankheit.«
Rathanial
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