Die Gamant-Chroniken 03 - Die Prophezeiung von Horeb
von der beinahe göttlichen Unfehlbarkeit der Magistraten glaubten. Aber Mord? Nein, da hatte Amirah wohl aufgrund ihrer Erschöpfung irgend etwas mißverstanden.
Jason stand auf und fragte: »Darf ich mir mal ansehen, was Sie entdeckt haben?«
»Ja, natürlich.«
Er ging zu ihrem Schreibtisch hinüber und nahm vor dem Computer Platz. Die Überschrift auf dem Schirm lautete: ALLGEMEINE ANWEISUNGEN FÜR DAS FORSCHUNGSZENTRUM AUF TIKKUN: Eröffnet am 10. Shebat 5413. Geschlossen am 15. Nisan 5414.
Amirah trug die Flasche und die Gläser zum Schreibtisch, füllte die Gläser nach und hockte sich dann auf die Kante ihres Betts.
Jason nickte ihr kurz zu und richtete dann den Blick wieder auf den Schirm. Allgemeine Anweisung Nr. 1: Major Johannes Lichtner ist gehalten, das neurophysiologische Team unter Leitung von Colonel Jonathan Creighton während der gesamten Dauer des Projekts auf jede erdenkliche Weise zu unterstützen.
»Das ist ungewöhnlich«, murmelte Jason.
»Sie meinen diese Blankoanweisung, jeden Befehl Creightons auszuführen?«
»Ja.« Er drehte sich zu ihr um. »Haben Sie schon jemals zuvor einen Befehl gesehen, der die Handlungsmöglichkeiten der betroffenen Offiziere nicht in irgendeiner Weise eingeschränkt hätte?«
»Nein, ich hätte eine derartige Anweisung sogar für unmöglich gehalten.«
»Ja, das sehe ich auch so.« Jason wandte sich wieder dem Schirm zu. »Aber in gewisser Hinsicht ergibt das durchaus einen Sinn. Falls es zu unvorhergesehenen politischen Verwicklungen kommt, können die Magistraten immer ihre Hände in Unschuld waschen und behaupten, sie wären über die Einzelheiten nicht informiert gewesen und daher auch nicht dafür verantwortlich.«
»Bitte lesen Sie weiter, Jason. Ich möchte Ihre Meinung dazu hören.«
Jason legte ihr sanft eine Hand auf die Schulter. »Warum versuchen Sie nicht zu schlafen, während ich das hier lese? In fünf Stunden muß ich wieder auf die Brücke, aber bis dahin kann ich hierbleiben und mit Ihnen reden, wenn Sie wieder aufwachen.«
Amirah lächelte ihn dankbar an und sagte: »Eine gute Idee. Ich werde es versuchen.«
Jason beobachtete sie, wie sie sich auf dem Bett zusammenrollte, die Augen schloß und schon nach wenigen Minuten ruhig und gleichmäßig atmete. Die Frau aus Stahl, wie Jason sie insgeheim häufig bezeichnet hatte, wirkte auf einmal sehr verletzbar und zerbrechlich.
Woloc wandte sich wieder dem Schirm zu und rief das nächste Dokument auf. Ein Holo-Film über das Lager leitete die Akte ein. Jasons Magenmuskeln verkrampften sich, als die unbeteiligt klingende Stimme des Sprechers von der ›Eliminierung nutzloser Subjekte‹ sprach.
Auf dem Schirm hoben fünfzig oder mehr Menschen eine Grube aus, darunter auch Kinder, die kaum groß genug waren, um die Schaufel zu halten. Ein Major stolzierte vor der Grube auf und ab und begutachtete den Fortschritt der Arbeit. Schließlich befahl er den Leuten, mit dem Graben aufzuhören.
»Beeilt euch gefälligst!« brüllte er. »Ihr dreckigen gamantischen Schweine werdet jetzt die Barmherzigkeit der Magistraten kennenlernen!«
Er ließ die Menschen vor der Grube Aufstellung nehmen und wies sie an, die Hände im Nacken zu verschränken. Dann marschierten zehn Soldaten hinter ihnen auf, hoben die Gewehre und eröffneten das Feuer.
Jason krümmte sich, als die violetten Strahlen gnadenlos Männer, Frauen und Kinder niedermetzelten. Die meisten Opfer stürzten in die Grube, die sie zuvor ausgehoben hatten; die übrigen wurden von großen Räummaschinen hineingeschoben.
Jason hielt den Film an und schlug mit der Faust auf den Tisch.
»Ich kann es einfach nicht glauben.«
Er schüttelte sich und startete den Film erneut. Die Szene wechselte. Jetzt war ein kleiner Junge von vielleicht fünf oder sechs Jahren zu sehen, dem die Tränen über das Gesicht liefen. Er schrie auf, als ihm Soldaten die Kolben ihrer Gewehre ins Gesicht stießen.
Jason biß die Zähne zusammen und stellte den Film auf Schnelldurchlauf.
Zwei Stunden später wandte er sich vom Schreibtisch ab und blickte zu Amirah hinüber. Sie schlief noch in der gleichen Haltung wie zuvor.
Jason rieb sich über das Gesicht. Er kam sich so vor, als wäre er von seiner eigenen Regierung verraten worden. Offensichtlich setzten die Herrschenden ihre eigenen Regeln außer Kraft, wann immer es ihnen beliebte. Ihre hehren ethischen Prinzipien schienen für sie selbst nicht die geringste Bedeutung zu haben.
Kein Wunder, daß Amirah
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