Die Gamant-Chroniken 03 - Die Prophezeiung von Horeb
sich in den Schatten an einem Felsen und schlug mit der Faust in den warmen Sand. Er hatte so lange und ausgiebig geweint, daß seine Kehle nun ganz rauh war.
Und doch konnte er den Blick nicht von den Kreuzen abwenden, die sich vor dem Sonnenuntergang abzeichneten. Yesus Kopf war vor einigen Minuten herabgesunken. Das Lendentuch und die Seile, die ihn am Kreuz hielten, waren alles, was ihn vor der Kälte der Nacht schützen würde.
Am frühen Morgen hatten sie ihren Rettungsversuch begonnen und waren gescheitert. Der Prokurator hatte seine Truppen rings um den Hügel verdreifacht. Matthya war ums Leben gekommen, Nathan nur mit knapper Not entwischt.
Er schloß die Augen und lauschte den Stimmen, die aus der Menge kamen. Den ganzen Tag über waren sie hierhergeströmt, die einen neugierig, einige traurig und wieder andere erfreut darüber, Yesu am Kreuz zu sehen.
»Herr, hilf ihm«, betete Nathan. »Er hat doch nichts Falsches getan, sondern nur versucht, sein Volk vor der Ungerechtigkeit der Römer zu schützen. Bitte, Gott, ich tue alles, was du von mir verlangst. Schick mir nur ein Zeichen …«
Dann begann die Erde zu beben, und Nathan öffnete wieder die Augen. Er setzte sich aufrecht hin und sah, wie sich hinter den Kreuzen eine gewaltige Schwärze auftat und das ganze Land bedeckte.
In seiner Mitte war ein Tunnel, und aus dem kamen Engel, ein Mann und eine Frau, die in sonderbare Gewänder gekleidet waren.
Als die Römer sie entdeckten, befiel sie große Furcht, und sie trieben ihre Pferde an, um von hier fortzukommen. Doch die Tiere gerieten in Panik und wollten nicht gehorchen.
Die Engel redeten nun in fremder Zunge miteinander, zogen Lichtschwerter aus ihren Gürtel und begannen, den Himmel damit zu zerteilen – wie am Tag des Jüngsten Gerichts.
Nathan rappelte sich auf. »Gott hat mir Engel gesandt. Engel mit Flammenschwertern!«
Die Menge auf dem Hügel kreischte und wandte sich zur Flucht. Nathan aber blieb und fiel auf die Knie, als die Engel sich ihm näherten.
Die Frau warf einen Blick auf Yesu, und ihr Blick wurde hart. Sie zog ein Messer aus dem Stiefel des Mannes, trat zu dem Gekreuzigten und schnitt die Seile durch.
Als er frei war, fing sie ihn auf und legte ihn vorsichtig in den Sand.
»Yesu!« rief Nathan, eilte zu den beiden und berührte seinen Arm. »Yesu, du darfst nicht sterben. Wach doch auf.«
Nathan hörte Schritte hinter sich, drehte sich aber nicht um. Er rieb seinem Freund die Wangen, bis dessen Lider flatterten. Er lebt! Gepriesen sei der Herr!
Nathan drehte sich zu den beiden Engeln um. »Seid bedankt. Seid tausendmal bedankt.«
Der Mann fragte die Frau nun leise: »Ist das ein Gamant?«
»Könnte sein. Er weist große Ähnlichkeit auf.« Sie wandte sich an Nathan und fragte ihn mit fremdartigem Akzent auf Aramäisch: »Wer bist du? Wie lautet der Name dieser Stadt?«
Nathan warf sich vor ihr auf den Bauch. »Man nennt mich Nathanaeus, großer Engel. Dank für Eure Hilfe. Ich preise den Herrn, weil Er euch an diesem schrecklichen Tag zur Stadt Yerushalaim geschickt hat.«
Die Frau blickte den Mann fragend an: »Nun, Historiker, wo soll das denn sein?«
Bevor er ihr antworten konnte, strömte eine Menschenmenge den Hügel hinauf. Die meisten von ihren trugen nur Lumpen und waren blutverschmiert.
Nathan klopfte Yesu freundschaftlich auf die Brust und erhob sich. Ein Mann und eine Frau führten die Leute an. Neben ihnen humpelten zwei uralte Männer. Ihre schwachen Beine trugen sie kaum über den tiefen Sand von Gulgolet.
»Das sind unsere Freunde«, erklärte der weibliche Engel.
Nathan schluckte. Er wußte nicht, was hier vor sich ging, und konnte sich keinen Reim darauf machen, warum die Engel sich so merkwürdig verhielten.
Als die Frau, die die Menge anführte, näherkam, weiteten sich plötzlich ihre Augen, und sie blieb stehen. Der Mann legte eine Hand auf ihren Arm und fragte: »Was ist mit dir, Sybil?«
Der Wind wirbelte Sand auf, und Nathan mußte seine Augen bedecken. Als er sie wieder öffnete, stand einer der Alten vor ihm und starrte immer wieder ihn und den Mann neben der Frau an, als könne er nicht fassen, wie ähnlich die beiden sich sahen.
Doch der Greis machte einen freundlichen Eindruck. Er schaute Nathan an und fragte mit ebenfalls sonderbarem Akzent: »Wie heißt du?«
Nathan verbeugte sich und blickte beunruhigt auf die immer größere Menschenansammlung, die ihn umringte. Sie alle trugen höchst merkwürdige Kleidung, wie er sie
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