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Die Gassen von Marseille

Die Gassen von Marseille

Titel: Die Gassen von Marseille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gilles Del Pappas
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Etwas, das einen taub und blind macht. Sehen Sie sie an! Nichts sonst zählt für sie … Nichts und niemand.«
    Sie neigt den Kopf und versinkt in Gedanken. Wenn Claudia von ihren Eltern spricht, nimmt ihre Stimme jedes Mal einen traurigen, wehmütigen Klang an.
    »Sie sind verbittert … Warum?«
    Ein Seufzer.
    »Als Isabelle und ich noch Kinder waren, hätten wir uns ein bisschen mehr Liebe gewünscht …«
    »Sind Sie denn nicht geliebt worden? Haben Ihre Eltern Sie nicht geliebt?«
    »Geliebt, nicht geliebt … Oh, das Schulgeld haben sie immer sehr pünktlich bezahlt. Wir haben unsere Kindheit und Jugend in Internaten verbracht, sehr noblen Internaten … Aber es waren trotzdem Internate.«
    »Wer ist Isabelle?«
    Das Gesicht der jungen Frau leuchtet auf.
    »Isabelle? Sie ist meine Schwester … Ich liebe sie. Sie ist das schönste Mädchen von ganz Toulouse. Das intelligenteste, sensibelste … Alles eben …«
    Mir entfährt ein Pfiff.
    »Wenn das so ist, Mademoiselle, worauf warten Sie noch, um sie mir vorzustellen?«
    »An dem Tag, an dem Sie ihr gegenüberstehen, wird Ihr griechisches Trappistenherz einen bösen Schlag abbekommen. Sie werden angesichts ihrer Schönheit im Staub kriechen wie alle anderen … Außerdem …«
    »Im Staub kriechen?«
    »Manchmal wird auf dieser Welt ein Mensch geboren, dem eine besondere Gnade zuteil ist … Gottes Finger hat sie berührt. Sie ist zu schön. Und das hat ihr viele Sorgen bereitet, es hat sie sogar unglücklich gemacht.«
    Wie kann man zu schön sein?
    »Unglücklich?«
    »Ja … Sie schämt sich dafür … Und das schon sehr lange … Sie war immer schön. Als Kind hatte sie deswegen das Gefühl, ein Monstrum zu sein, eine Anomalie … Sie sagte oft, sie hätte nur einen Wunsch: versteckt zu sein. ›Am liebsten würde ich auf eine einsame Insel ziehen‹, erklärte sie, ›oder ins Kloster gehen. Die Menschen machen mir Angst, und da hätte ich meine Ruhe. Du wärest die Einzige, die mich dann noch sehen dürfte. Ich würde mich um Tiere und Blumen kümmern und den ganzen Tag lang singen … Denn ich will nicht in dieser Welt leben, wo mich alle ständig anstarren …‹«
    Claudia wirkt müde.
    »Heute kritisiert sie Menschen, die nur an sich denken, keine Liebe geben … Ich habe mein Leben … meine Arbeit, die sie nicht versteht.«
    Sie mag keine Bullen? Hey, das Mädel ist mir sympathisch …
    »Und dann ist da noch die Musik … Isabelles große Leidenschaft. Wir haben schon immer zusammen Musik gemacht. Wenn wir in den Sommerferien zu Hause waren, hat mein Vater die Geige genommen, meine Mutter setzte sich ans Klavier, ich spielte Querflöte und meine Schwester Cello.«
    Ich stelle mir die Szene vor. Der Sonnenuntergang, ein Flügel, die übrigen Instrumente und schließlich eine Melodie.
    »Den ganzen Sommer über spielten wir nach dem Abendessen, und die Grillen zirpten dazu. Es wurde sehr schnell klar, dass Isabelle eine große Cellistin werden würde. Sie hat die nötige Disziplin, Sensibilität, Kraft und das Abstraktionsvermögen. Natürlich ist sie nach der Schule aufs Konservatorium gegangen und hat dort alle bezaubert. Und dann kam es, wie es kommen musste. Einer der Dozenten hat sich Hals über Kopf in sie verliebt. Er war regelrecht verrückt nach ihr … Es war furchtbar. Jeden Tag verfolgte er sie und schrieb ihr glühende Liebesbriefe. In unseren Augen war dieser Mann alt. Er muss wohl um die vierzig gewesen sein, verheiratet, drei Kinder. Seine Frau hat ihn natürlich verlassen. In einer Provinzstadt bleibt so etwas nicht lange geheim …«
    Kann ich mir vorstellen …
    »Meine Schwester war sehr unglücklich. Sie hasst es, im Mittelpunkt zu stehen. Kurz gesagt, eines Tages hat man den Dozenten vor unserem Fenster gefunden. Er hat sich an der Straßenlaterne aufgehängt.«
    Sie schluckt betreten.
    »Der Tod dieses Mannes war ein fürchterlicher Schock für sie.«
    Das glaube ich gerne … Trotzdem würde mich interessieren, wie diese Hetäre aussieht … Aber ich muss arbeiten.
    »Soll ich Ihnen beim Abräumen und Spülen helfen?«, frage ich Claudia. »Ich würde Ihnen ja liebend gern noch den ganzen Tag zuhören, aber ich muss dieses verflixte Foto suchen …«
    Sie lächelt und schüttelt den Kopf.
    »Nein, lassen Sie nur, das dauert drei Minuten. Aber vielleicht kann ich Ihnen ja stattdessen bei den Fotos helfen?«
    Ich denke über ihren Vorschlag nach. Keine schlechte Idee, zumindest für den ersten Teil der Arbeit …
    »Da sag ich

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