Die Gassen von Marseille
nicht nein, Madame … Für den ersten Durchgang wäre mir das sicher eine Hilfe. Aber ich möchte Sie auf keinen Fall ausnutzen.«
»Ach, was soll’s. Ich sitze doch sowieso hier mit Ihnen fest … In der Schwüle des Nachmittags, da die Fantasie ihr langes ätherisches Band entrollt …«, deklamiert sie theatralisch. »Eingesperrt mit ’nem Laienbruder, der nicht mal für ’ne Nummer taugt. Will nur reden, während …«
Sie lacht, als sie mein empörtes Gesicht sieht.
»Nein, war nur ein Scherz. Sie sind kein Mönch …«
Sie scheucht mich aus der Küche.
Ich fange an zu sortieren. Rechts die Farbfotos, links Schwarzweiß. Ich tauche ein in das wilde Durcheinander meiner Vergangenheit. Die Erinnerungen fast eines gesamten Lebens. Nein, eher mehrerer Leben. Seltsam. Auf den Negativen sehe ich Aufträge, die mir gelungen sind, und welche, die ich vermasselt habe, die fremdem Länder, die Orte, an denen ich gelebt habe, alte Freunde, die Frauen, die ich geliebt habe … Juliette …
Schon bald stößt Claudia zu mir. Ich zeige ihr, wie man die verschiedenen Negative unterscheidet. Noch suche ich nicht gezielt, sondern sortiere erst und mustere dabei die Fotos aus, die auf keinen Fall in Frage kommen. Die junge Frau ist beeindruckt von der Menge an Arbeit, die vor mir liegt. Sie sagt nichts, aber ich sehe genau, dass sie mich von jetzt an mit anderen Augen betrachtet.
Es ist ein herrlicher Tag. Hin und wieder zwinkert uns die Sonne zwischen den dunklen Flecken der uralten Platanen hindurch zu. Manchmal spaziert eine verirrte kleine Spinne, eine Fliege oder ein Marienkäfer über unsere Negative.
Die Zeit vergeht … 19 Uhr … Wir arbeiten ohne Pause, es geht gut voran. Ich strecke mich wie Tarzan im Dschungel.
Meine Knochen krachen.
Die Zikaden zirpen.
Endlich haben wir alle Kartons durch. Claudia streckt sich ebenfalls. Aber bei ihr geschieht das dezent, ohne das geringste Geräusch. Strecken ist ansteckend.
»Wow! Ich bin fix und fertig … und total ausgetrocknet. Jetzt könnte ich einen Schluck vertragen …«
Da schließe ich mich an! Wir setzen uns unter die Bäume, um die Kühle zu genießen. Sie holt einen Krug Wasser, in dem Unmengen von Eiswürfeln schwimmen. Gerade hat sie noch eine Zitrone hineingepresst.
Während wir trinken, ruhen wir unsere Köpfe und Augen aus.
»Und was machen wir jetzt?«, fragt sie.
»Wir haben die schwarzweißen von den farbigen Negativen getrennt. Jetzt gehen wir nach Wahrscheinlichkeit vor … Ich habe mir den Fotoschnipsel eben noch einmal angeschaut. Sieht ganz so aus, als wäre das Bild mit einer Leica gemacht worden, vollkommen sicher bin ich mir allerdings nicht … Auf jeden Fall habe ich ein 50mm-Objektiv verwendet. Also würde ich sagen, dass wir als Erstes alle Kleinbildnegative raussuchen … Danach sortieren wir noch genauer. Sie gehen also jetzt alles nach großen Negativen durch und packen diese in einen anderen Karton … Ich zeige es Ihnen, es ist ganz leicht! Fangen wir an?«
Wir brauchen ungefähr drei Stunden für diese Arbeit. Mittlerweile ist es dunkel geworden, aber noch immer ist es sehr warm …
Das Telefon klingelt. Wir sind so ins Sortieren vertieft, dass wir beide zusammenzucken. Es ist der junge Polizist. Claudia antwortet und legt den Hörer dann an ihre Brust. Dieser Glückspilz!
»Kommissar Mateis lässt fragen, ob wir etwas brauchen.«
Ich schaue auf die Uhr und wundere mich.
»Schon … Verdammt, die Zeit ist ja irre schnell vergangen … Der ruft so spät noch an? Die spinnen, die Bullen! Es ist halb elf …«
Claudia lächelt und zuckt resigniert mit den Schultern.
»Das ist meine Schuld … Ich habe ihm gesagt, dass ich zurückrufen würde, aber ich habe es vergessen.«
»Wir sind fast fertig. Die Einkäufe können auch bis morgen warten. Lassen Sie uns die Sache mit dem Foto heute Nacht hinter uns bringen, einverstanden?«
Sie nickt.
»Ich schreibe dem kleinen verknallten Rotschopf eine Einkaufsliste, die er so schnell nicht vergessen wird …«
Claudia gibt ihm die nötigen Anweisungen.
»Er kommt morgen früh um halb neun. Quasi im Morgengrauen.«
Sie wartet auf meine Reaktion.
»Ist das okay für Sie? Sind Sie um diese Zeit schon wach?«
Ich lache.
»Sie halten mich ja wirklich für einen Asozialen. Lassen Sie mich Ihnen sagen, junge wohlerzogene Unschuld aus dem Südwesten, dass mein Tag sehr früh beginnt. Vor allem im Sommer. Sie werden überrascht sein, wenn ich Ihnen morgen das Frühstück ans Bett
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