Die Gassen von Marseille
wäre nur gerecht … Wir würden die Jungs in den Hintern kneifen und ihnen unmoralische Angebote ins Ohr flüstern. Aber im Übrigen bin ich nicht christlich. Freidenkerin. Von Kopf bis Fuß, innen und außen, rund herum. Meine Familie ist ganz genauso, alles Ungläubige … Weder getauft noch fromm, Atheisten, Gottlose, unreligiöse Heiden.«
Sie verstummt kurz und fährt dann ernster fort: »Sie fehlen mir ein bisschen … Meine Familie, meine ich, und auch meine Stadt … Was ist mit Ihnen, Constantin? Gefällt es Ihnen in Marseille?«
Natürlich gefällt es mir in Marseille. Was soll die Frage?
»Das ist doch kein Wunder, Marseille ist die schönste Stadt der Welt … Die einzige mit einer Reede, um die uns die ganze Welt beneidet, mit einer unglaublichen Arbeitslosenquote, mit Sonne, so viel man sich nur wünschen kann, dem weiten Meer, wohin man schaut, einer Bevölkerung, die sich im Laufe der Zeit so sehr vermischt hat, dass eine Katze ihre Jungen nicht wiederfinden würde, Gestank, Mistral, alte Kulturen unterschiedlichster Herkunft, kurzum, man fragt sich wirklich, wie Leute überhaupt woanders leben können … Ich spreche von den Wilden, Barbaren, Ungebildeten, Vandalen …«
»Sind Sie denn niemals aus dieser Stadt weggekommen?«
Ob ich niemals aus dieser Stadt weggekommen bin? Suarès kommt mir in den Sinn …
»Wer in Marseille geboren ist, braucht nicht fortzugehen … Er ist schon fort …«
»Marseille! Meine Güte, ja, ich bin oft weggegangen … Oft, zu oft … Leider. Ich liebe Marseille, weil ich es so oft verlassen habe!«
Ich erzähle ihr ein bisschen aus meinem früheren Leben, als ich noch ans Ende der Welt reiste, um das Grauen mit zurückzubringen, das ein paar Pressezaren reich machte, die stets auf die niedersten Instinkte des Menschen setzten. Morbide Faszination, Voyeurismus …
»Und wie kommt es, dass Sie nicht mehr fotografieren?«
Diese Frage musste ja kommen!
»Weil ich eines Morgens keine Lust mehr hatte, mich zum Trottel zu machen. Na ja, diese ganzen Sachen … Was soll’s! Ich weiß nicht, was damals in mir passiert ist, also kann ich auch nicht wirklich etwas dazu sagen … Alles, was ich weiß, ist, dass ich eines Morgens wach wurde und es nicht mehr konnte …«
»Und was ist mit Marseille … Woher kommt diese Liebe zu einer Stadt, die doch längst nicht perfekt ist? Gehören Sie auch zu den Menschen, die ›irgendwo geboren sind‹, wie Brassens es ausdrückt?«
Sie kann es einfach nicht lassen.
»Für Dalí lag das Zentrum der Welt am Bahnhof von Perpignan, und mein Omphalos befindet sich nun mal mitten im Panier, eigentlich sogar direkt in meiner Wohnung …«
Absichtlich wechsle ich das Thema. Das hier strengt mich zu sehr an. Ich deute auf das Foto in dem Edelholzrahmen.
»Ist das Ihr Lover? Ein bisschen alt, finden Sie nicht?«
Claudia lacht. Sie nimmt den Rahmen von der Wand.
»Ja, das ist mein alter Lover … Ich stehe auf alte Männer. Und er liebt mich genauso, wie ich von ihm geliebt werden will … Um ehrlich zu sein, ich habe das Foto zusammen mit dem Rahmen auf einem Trödelmarkt in der Nähe von Toulon erstanden. Und seitdem habe ich einen Freund. Sehr praktisch.«
Sie küsst das Bild.
»Ein Freund wie der hier ist sehr angenehm. Wenn er aus dem Bad kommt, ist nicht der ganze Boden nass. Er hat keine stinkenden Füße, schnarcht nicht, betrügt mich nicht, lässt keine ekligen Haare im Waschbecken liegen, meckert nicht, wenn ich zu spät komme, und …«
Sie schaut mir direkt in die Augen, um mir den Gnadenstoß zu versetzen: »Und bei ihm laufe ich nicht Gefahr, mir eine von diesen Krankheiten einzufangen, an denen man heutzutage stirbt …«
Daraufhin sieht sie mich eindringlich an, als hätte ich ihr ein unsittliches Angebot gemacht …
»Sehr viel besser als ein echter … Finden Sie nicht?«
»Ich? Ich habe doch gar nichts gesagt …«
»Ihre Augen sprechen, und was sie sagen, lässt mich rot werden …«
Ich deute auf den zweiten Rahmen.
»Und das sind Ihre Eltern?«
Sie geht näher an das Foto heran und betrachtet es lange, ehe sie antwortet.
»Ja, mein Vater und meine Mutter … Das ist unser Haus am Meer … Sie sind schön, nicht wahr? Und sie lieben sich …«
Sie lächelt verträumt.
»Nein, sie lieben sich nicht. Dieser Ausdruck ist viel zu schwach! Sie vergöttern einander vielmehr, ihre Liebe …«
Jetzt sucht sie nach den richtigen Worten.
»Wissen Sie, Constantin, die Liebe kann etwas Gewaltiges sein …
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