Die Gassen von Marseille
auf.
»Fertig … Der Kaffee ist fertig …«
Er nimmt sie in die Arme, liebkost sie und drückt sie fest an sich.
»Ich liebe dich, weißt du …«
Das junge Mädchen ist gerührt. Sie küssen sich. Dann springt sie auf und wickelt sich, so gut es geht, in die Decke. Die Temperatur in dem kleinen Zimmer ist gesunken.
Schon ganz Glucke, sorgt sie sich um ihn.
»Du solltest dir etwas anziehen, sonst holst du dir noch den Tod.«
Er lacht und wirft dabei den Kopf in den Nacken. Dann zieht er seine samtene Hose und sein Hemd an. Sie frühstücken zusammen im Licht des Ofens, die Köpfe nah beieinander. Sie ist froh, dass er die Lampe nicht angezündet hat. Wieder ein Zeichen, dass sie füreinander geschaffen sind. Sie verstehen sich …
»Ich muss jetzt gehen. Meine Eltern sollen nicht merken, dass ich heute Nacht nicht da war …«
Sie sind nicht sehr streng, aber es würde ihnen sicher wehtun, wenn sie davon wüssten. Sie braucht etwas Zeit, um es ihnen zu erklären … Denn da gibt es ja auch noch die Religion. Das bleibt ein kleines Problem. Agostino ist getauft, aber er geht nicht in die Kirche … Aber das werden sie noch früh genug erfahren … Ihr Vater vergöttert sie, und in ihrer Vorstellung wird die ganze Familie Agostino lieben. Wer könnte ihn nicht lieben! Sie wollen sich verloben, sobald Marseille wieder Marseille geworden ist. Ohne deutsche Besatzer, ohne Bomben, ohne Lebensmittelkarten … Er erzählt ihr von seiner Familie, sein Vater ist tot …
»Meine Mutter heißt Adriana, meine Schwestern Anita, Maria und Primera … Eine hübscher als die andere, du wirst schon sehen. Ich schicke ihnen jeden Monat die Hälfte von meinem Lohn, denn in Italien hat im Moment niemand Geld.«
Sie streift ihre Kleider über und lacht dabei, denn es ist das erste Mal, dass sie sich gemeinsam anziehen. Sie hat einen Strumpf verloren. Leise necken sie sich ein wenig, denn es ist spät und die Leute im Haus schlafen. Sie wird sich zu Hause waschen. Eine Kruste aus Blut und Sperma zwischen ihren Beinen erinnert sie daran, dass sie keine Jungfrau mehr ist. Es ist ein merkwürdiges Gefühl … Aber gleichzeitig … hat es Spaß gemacht, heute Nacht. Sie ahnt, dass das erst der Anfang war und dass es immer besser werden wird. Mit der Zeit werden sie sich aufeinander einstimmen, so wie der alte Simon donnerstags in der Bar seine Geige stimmt. Sich mit der Fiedel des alten Musikers zu vergleichen entlockt ihr ein weiteres Lachen.
»Was ist los? Warum lachst du?«, fragt er, jetzt schon eifersüchtig darauf bedacht, stets zu wissen, was seine Geliebte denkt.
Sie küsst ihn.
»Nichts … Ich bin einfach nur glücklich …«
Eng aneinandergeschmiegt gehen sie die Treppe hinunter. Als sie im ersten Stock ankommen, bemerken sie überrascht Geräusche und ein ungewöhnliches Treiben auf der Straße. Unten im Hausflur unterdrückt das junge Mädchen einen Aufschrei. Ein Mann versteckt sich in einer Ecke und sieht verstohlen nach draußen. Er zuckt zusammen und dreht sich um.
»Ah, Agostino! Mit deiner Freundin? Ihr habt mich erschreckt«, flüstert er.
Es ist Mario, der Chef der italienischen Arbeiter. Fragend sieht er sie an.
»Was macht ihr hier? Da draußen wimmelt es von Gendarmen. Sie verhaften alle. Und sie durchsuchen die Häuser und holen alle raus … Sag mal, Kleine, du bist doch Jüdin, oder?«
Sie kann es nicht mehr hören. Sieht man ihr denn wirklich an, dass sie jüdisch ist? Dabei trägt sie nicht einmal den schändlichen Stern! Der Mann spürt ihren Zorn und lächelt besänftigend.
»Hör zu, ich will dir nichts Böses … Es ist mir vollkommen egal, ob du jüdisch bist oder nicht … Es ist nur, weil sie …«
Als sie nicht antwortet, wendet er sich an Agostino.
»Ist sie Jüdin? Ja … Sie darf auf keinen Fall nach draußen … Unter keinen Umständen, mi senti, Agostino?«
Der junge Mann nickt.
»Si … Ma perché? Was ist denn jetzt schon wieder los?«
»Wenn ich das wüsste«, antwortet Mario bitter. »Wann hört das endlich auf? Stronzo! Mit diesen ganzen finocchi … Casino della Madonna!«
Sie stöhnt. Etwas schnürt ihr das Herz zusammen.
»Aber … Meine Eltern …«
Mario nimmt seine Mütze ab und kratzt sich am Kopf.
»Ich sage ihnen Bescheid. Mach dir keine Sorgen, Kleine … Mir wird schon eine Ausrede einfallen. Ich muss sowieso zur Baustelle … Geht wieder nach oben. Und bleibt heute Morgen unbedingt drinnen. Ich komme vorbei und sage euch Bescheid, sobald es etwas Neues
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