Die Gauklerin von Kaltenberg
Leib übersäten. Obwohl sie ihm für das, was er ihr angetan hatte, tausendmal den Tod gewünscht hatte, schrak sie zurück.
Draußen heulte ein Wolf. »Sie sollen aufhören!«, brüllte er mit überschnappender Stimme. Er schlug sich so heftig mit den Fäus ten gegen die Schläfen, dass Anna zusammenzuckte. Sie hatte die furchtbare Krankheit schon zu oft gesehen, um nicht zu wissen, was die schwarz verfärbten Fingerkuppen bedeuteten.
»Er spürt schon nichts mehr«, bestätigte der Mönch. »Wir fanden ihn nicht weit von hier. Er war wohl mit einer Bande Stra ßenräuber durchs Land gezogen, oder sein Gefolge hat ihn ein fach liegen gelassen. Vielleicht hat ihn die Krankheit auf einem verseuchten Strohsack gepackt, vielleicht hat er das Mutterkorn mit dem Morgenbrei aufgenommen. In jedem Fall ist er zu abge magert, als dass er es überstehen könnte.«
AnnasHand klammerte sich um die Fackel. Es hieß, dass feuchtes Wetter das giftige Mutterkorn im Roggen hervorbrachte. Aber niemand konnte es sich noch leisten, Getreide deshalb weg zuwerfen. Sie fragte sich, was der Fraß hier gewollt hatte. War er in Leopolds Auftrag gekommen, um sie zu suchen? Und wie viele Männer noch?
Der fiebrige Blick des Kranken streifte sie. »Du?« Über die auf geplatzten Lippen rann Blut, als er leise lachte. Es klang, als knis tere der Wind in Pergamentblättern. »Warst du es?«, flüsterte er ge hässig. »Herzog Leopold sagt, eine Gauklerin hätte ihm das Buch gestohlen.« Er kicherte wie ein Irrer. »Aber jetzt bist du hier. Dann fahre ich wenigstens nicht allein zur Hölle!«
Ebenso unfähig, ihr Entsetzen zu verbergen wie wegzulaufen, starrte Anna in das von Geschwüren zerfressene Gesicht. War es der Wahnsinn, der das Antoniusfeuer begleitete? Oder hatte er im Angesicht des Todes jene sonderbare Klarheit gewonnen, mit der so viele Menschen vor den ewigen Richter traten?
»Du hast es, nicht wahr?«, zischte er. Er war kaum noch zu ver stehen. Er streckte die verfärbten Finger in ihre Richtung, und Anna wich zurück. In ihrem Inneren tobten Furcht und Abscheu. »Die Hölle kann stolz auf dich sein!«
Auf einmal brüllte er wie ein sterbendes Tier. Sein Gesicht lief blau an, er rang nach Luft. Anna taumelte gegen die Wand und blieb keuchend stehen. Zitternd starrte sie auf das Lager. Mit ge öffnetem Mund und erstarrten Augen lag Heinrich von Wolfsberg auf dem besudelten Laken.
Am nächsten Morgen wachte Anna von einem trockenen, schmerzhaften Husten auf. Mühsam kam sie hoch und rieb sich die schmerzenden Glieder. Durch die Bretterwand hörte sie einen Auerhahn balzen. Das Schnalzen und Schnarren pochte in ihrem Kopf.
»Bleib liegen«, sagte jemand. »Du hast Fieber.«
ImHalbdunkel machte sie die Umrisse eines großen Man nes im hellen Waffenrock aus. Der Mann, vor dem sie geflohen war!
Sie wollte aufstehen und krümmte sich, als ein neuer Husten sie schüttelte. Ein hitziger Schauer durchlief sie. Erschöpft sank sie zurück auf den Strohsack.
»Ich tue dir nichts. Kennst du meine Tracht nicht? Ich bin ein Ordensritter.«
Verwirrt sah sie auf. Ein schwarzes Kreuz auf weißem Grund kam in ihr Blickfeld. Anna erkannte das Ordenshemd der Deutsch herrn. Aufatmend sank sie zurück.
Graue Locken fielen ihm auf die Schulter. Sein Gesicht war ernst und wirkte auf eine sonderbare Art gezeichnet. Es erinnerte sie an jemanden. Es war nichts in seinen Zügen, vielleicht eher in seinen Bewegungen, seiner Art, den Kopf zu werfen.
Er legte ihr eine kühle, sehnige Hand auf die Stirn, und er schöpft schloss sie die Augen. »Ich muss nach Kaltenberg«, flüs terte sie.
»Kaltenberg?« Seine Stimme war so scharf, dass sie überrascht die Augen aufschlug. Diese Stimme klang nicht wie die eines Mannes, der Wunden heilte. Viel eher wirkte sie wie die eines Kriegers. »Was hast du dort zu schaffen?«
Wieder hustete sie trocken. Jeder Atemzug tat weh. »Euer Name … Herr?«, murmelte Anna. Sie hatte gelernt, einem Mann nicht ohne weiteres zu trauen.
Er wies auf sein Ordenshemd. »Du kannst mir vertrauen.«
Anna schloss die Augen. Wie Ihr wollt, Herr!, dachte sie, ehe sie wieder bewusstlos wurde.
Sie wusste nicht, wie lange sie im Fieber lag. Bildfetzen jagten durch ihre Träume. Irgendwo hörte sie eine Frauenstimme sin gen. Es war eine beruhigende Melodie, vielleicht eine Nonne, die einen Hymnus der heiligen Hildegard von Bingen intonierte. Der Klang hallte unwirklich, wie aus einer anderen Welt.
Alssie wieder zu sich kam,
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