Die Gauklerin von Kaltenberg
offenbar niemand mit einem neuen Teilnehmer gerechnet. Nur der Turniervogt wechselte einen Blick mit dem König. Als hätte er es erwartet, winkte er dem roten Ritter, zu den anderen zu reiten. Der Tag der Tjoste war eröffnet.
Es war unüblich, das Lanzenbrechen auf den zweiten Tag des Tur niers zu legen, dachte Raoul, während die Ritter an der Schmal seite des Platzes warteten. Aber es half ihm, denn so konnte er sich als Herr von Kaltenberg empfehlen. Es gelang ihm nur schwer, sei nen Hass auf Ulrich zu beherrschen. Seit er wusste, dass derselbe ungezügelte Hass seinem Vater zum Verhängnis geworden war, fiel es ihm leichter. Unwillkürlich suchte er nach dem weißen Or denshemd in der Menge und fand es. Als er den besorgten Ge sichtsausdruck seines Vaters bemerkte, lächelte er, und Stolz er füllte ihn. Unwillkürlich hob er leicht die Lanze. Konrad von Haldenberg würde nichts bereuen.
Anna war noch nicht zu sehen, dachte er, während er das un ruhigePferd zügelte. Er war genauso angespannt wie alle Kämpfer. Aber wenn er daran dachte, wie sie ihn vorhin berührt hatte, als sie ihm in die Rüstung half, war er auch unendlich glücklich. Schon heute Abend würde sie niemand mehr eine Hexe nennen. Er musste siegen, und es würde ihm gelingen.
Sifrid von Kühlenthal trat als Erster in die Schranken, und Ra ouls Aufmerksamkeit richtete sich nur noch auf ihn. Wenn er Er folg haben wollte, musste er den Stil seiner Gegner kennen.
Die Gaukler fiedelten, trommelten und flöteten, was das Zeug hielt, Pferde schnaubten, und die Zuschauer tauschten sich ver nehmlich über die Kämpfer aus. Ungerührt von Krach und Getöse trabte der Schimmel des Kühlenthalers an die Schmalseite entlang der Tilt – der farbigen Mittelplanke, welche die Reitbahn längs teilte. Obwohl dies keines der großen Turniere war, wo Könige ge geneinander antraten, hatte man nicht darauf verzichtet. Aus gu tem Grund, allzu leicht konnte ein Kämpfer seinen gestürzten Gegner niederreiten.
In gestrecktem Galopp rasten die Tiere aufeinander los, und krachend barst die erste Lanze. Der Kühlenthaler schwankte und stürzte aus dem Sattel. Mühsam kam er auf die Beine und klopfte sich den Staub aus dem Waffenrock. Mit schmerzverzerrtem Ge sicht betastete er seine Brust. Er hinkte zum Rand der Reitbahn, wo ihn seine besorgten Knechte empfingen. Als der Medicus seine Schulter berührte, schrie er vor Schmerz auf. Die nächste Lanze würde er kaum noch gerade halten können.
Ungeduldig verfolgte Raoul auch die nächsten Tjoste. Dann gab er seinem Rappen die Sporen und galoppierte an der Reihe der an deren vorbei. Mit der Lanze schlug er gegen einen Schild nach dem andern – die offizielle Herausforderung zum Kampf.
Stille breitete sich aus. Selbst auf der Königstribüne herrschte Schweigen. Überrascht sahen sich die Kämpfer an, die Zuschauer begannen zu tuscheln. Regen setzte ein, aber niemand wäre jetzt gegangen.
Ineinem Bogen umrundete Raoul die Tilt und streckte die Hand nach der Lanze aus. Ein Grieswärtel reichte ihm die mit Bändern umwickelte Waffe. Ihm gegenüber trat der Graf von Die ßen in die Schranken. Es war gut, dachte Raoul, dass man einem gepanzerten Gegner nicht in die Augen sah. Zu gut wusste er, dass auch ein Stoß mit der stumpfen Lanze tödlich sein konnte.
Auf das Zeichen gab er seinem Pferd die Sporen. Der Dieße ner brüllte etwas und donnerte mit vorgeneigtem Oberkörper, die blaugelb umwickelte Lanze über dem Arm, auf ihn zu. Nasses Stroh, Schlamm und Erde spritzten unter den Hufen auf. Unter der Panzerung und mit dem Zacken vorn auf der Stirn wirkte das Tier noch gewaltiger. Der Regenschleier erschwerte die Sicht und drohte die Pferde straucheln zu lassen. Raoul senkte das Ende mit dem eisernen Turnierkrönlein. Er traf den Schild.
Der Aufprall nahm ihm den Atem und schleuderte ihn nach hinten weg, einen Augenblick hatte er das Gefühl, seine Rippen würden bersten. Der ohrenbetäubende Krach ließ ihn unwillkür lich den Kopf zur Seite werfen, um keinen Lanzensplitter ins Auge zu bekommen. Fast taub von der Wucht der gegnerischen Lanze, hielten seine Finger den Schild nur mühsam. Ein Stück Holz flog gegen seine Schulter, aber die Brechscheibe schützte die Hand. Es gelang ihm, sich wieder aufzurichten. Der Graf schwankte, griff haltsuchend nach dem Kastensattel, doch zu spät. Er stürzte ins Stroh.
Jubelgeschrei tönte Raoul entgegen, als er das andere Ende erreichte und sein Pferd ruckartig zum Stehen
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