Die Gauklerin von Kaltenberg
heraus.
»Er konnte noch nie Buchstaben lesen!«, brachte sie hervor. Sie hatte Blut und Wasser geschwitzt, ob Ulrich es inzwischen gelernt hatte. Aber sie hatte ihn richtig eingeschätzt. Ulrich interessierte sich für Ruhm und Ehre, und dazu taugte das Lesen nicht. Er hatte nicht einmal gemerkt, dass es Arabisch war!
Anna gewann ihre Fassung wieder. »Nein«, schleuderte sie den Männern ins Gesicht. »Das ist nicht das Buch, das Ulrich wollte. Das ist das Handbuch der Medizin des Mauren Ibn Butlan!«
Sie bedauerte zutiefst, dass es keine Möglichkeit gab, das dumme Gesicht eines Menschen in einem einzigen Augenblick auf Pergamentzu bannen. Die beiden Männer hätten ein prachtvolles Bild abgegeben. »Das richtige Buch ist an einem sicheren Ort«, triumphierte sie. »Ihr werdet es niemals bekommen!«
Der Waffenknecht hatte sich wieder gefangen und stieß sie bru tal zur Wand. Erschrocken schrie der Kaplan auf, doch er fuhr ihn an: »Verschwindet, das geht Euch nichts an!« Er packte Anna an der Kehle und zischte: »Wolltest uns wohl zum Narren halten, du Gauklermetze!« Er riss das Schwert aus der Scheide.
Unten im Hof brüllten Stimmen durcheinander. Überrascht sah der Waffenknecht nach dem Fenster. Er lief in die enge Nische, blickte hinab und stieß einen verblüfften Schrei aus.
Anna stieß den Kaplan zur Seite, raffte ihr Kleid und stürzte hin aus. Dankbar, dass sie sich im Palas auskannte, hastete sie die Treppe hinab in den kahlen Vorraum. Die Tür unten war unver schlossen. Sie stieß sie auf und stand im Hof.
Eine kräftige Bö fegte ihr ins Gesicht, Regentropfen klatschten gegen ihre erhitzten Wangen. Keuchend sah sie sich um. Sebas tian hatte die gelangweilten Wächter mit seinen Muskelpaketen unterhalten, aber sein Auftritt war offenbar jäh gestört worden. Durch das Tor rannten die Waffenknechte herein, brüllend befah len sie, das Gitter herunterzulassen. Die Würfel, mit denen sich die Männer sonst die Zeit vertrieben, flogen zur Seite. Rasselnd und quietschend bewegten sich die Ketten an der Winde, das schwere Gitter aus rostigem Eisen senkte sich herunter und schnitt ihr den Weg ab.
Hinter den Waffenknechten rannten die aufgebrachten Bauern über die Brücke auf die Burg zu. Mit Heugabeln und Dreschflegeln stemmten sie sich gegen das Gitter. Der halbe Herrenhof musste auf den Beinen sein, dachte Anna verblüfft: Männer und Frauen, sogar Kinder rüttelten mit abgearbeiteten Händen am Gitter. Schmutzige Füße ohne Schuhe kletterten die Stangen hoch. Knie unter zerfetzten Beinlingen drückten sich durch die Lücken, tausendmal geflickte und schon wieder eingerissene Kittel. Nackte schmutzigeArme mit Narben von Hundebissen oder Warzen versuchten in den Hof nach den Wachposten zu greifen, die sich erschrocken in das steinerne Torgewölbe zurückgezogen hatten. Unzählige Münder öffneten sich über lückenhaften Zähnen und schrien Verwünschungen: »Schluss mit der Fronarbeit! Wir hungern!«
»Gebt uns unser Land zurück!«
»Da drin ist alles voller Vorräte!« Anna erkannte Lena, die ihr wutverzerrtes Gesicht zwischen die Stangen drückte. »Seine Waf fenknechte sind fett und satt, und uns presst er aus!«
Anna starrte so fassungslos hinüber, dass sie kaum spürte, wie der Regen gegen ihren Körper klatschte. Längst klebte das Kleid an ihren Beinen, und das Haar hing strähnig herunter, doch sie fror nicht. Die Wachposten berieten, wie sie Nachricht zum Turnierplatz schicken konnten, aber das Tor war der einzige Weg. Die meisten Bewaffneten wurden unten gebraucht, von den Rittern ganz zu schweigen. Nur wenige Männer gegen eine Herde aufge brachter Bauern – sie hatten keine Lust, ihr Leben aufs Spiel zu set zen. Enttäuscht beobachtete Anna, dass sie einfach abwarteten und hofften, das Tor würde halten.
Im Hof waren die Frauen aus der Küche und die Handwerker aus ihren Buden gerannt. Unschlüssig standen sie im Regen.
»Verschwindet!«, brüllte einer der Wächter. Er nahm seine Reit peitsche und schlug auf die vordersten Gaffer ein. »Zurück an eure Arbeit!«
Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Als hätten sie nur auf einen Anlass gewartet, fielen die Leute über ihn her. Das war die Gelegenheit zur Flucht! Anna raffte ihre Röcke und rannte mit den anderen zum Torhaus. Philipp, der Schuster, stieß den Wachposten an der Winde weg, und alle zerrten gemeinsam an den Ketten, um das eiserne Gitter hochzuhieven. Die Bauern von draußen halfen mit
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