Die Gauklerin von Kaltenberg
gewesen, hätte Anna gedacht, dass blanker Hass in ihrem Blick stand.
»Ulrich!« Verzweifelt sah sie zu ihm hinüber und dann wieder auf Vater Maurus.
Raoul raffte plötzlich die gegürtete Cotte. Mit einem heraus fordernden Lächeln setzte er den Stiefel in den Schlamm.
»Ihr seid ein Narr!«, schrie Ulrich ihm nach. »Der Föhn hat Euch den Kopf vernebelt – dann brecht Euch doch den Hals!«, brüllte er, als Raoul seine Warnung missachtete. Wütend schlug er die Faust gegen einen Stamm.
Vorsichtig, aber mit sicheren Schritten kam Raoul heran. Er hatte so viel christliche Milde in sich wie ein maurischer Schind knecht,dachte Anna misstrauisch. Wenn er sein Leben wagte, um dem Kaplan zu helfen, dann entweder, um Ulrich zu demütigen, oder aber …
Mit wild klopfendem Herzen sah sie den steilen Abhang hinab. Wenn er sich ihrer entledigen wollte, ohne den Burgfrieden zu brechen, hätte er keine bessere Gelegenheit finden können. Jeder hatte gesehen, wie gefährlich der Erdrutsch war.
Raoul hatte sie fast erreicht. Mit einer Hand hielt er sich an einer Wurzel fest, die noch im lockeren Boden verankert war. Sein mus kulöser Oberkörper war nach vorne gebeugt, um über eine schlam mige Stelle zu springen. Er hob die Lider und sah sie aus seinen schwarzen Augen an.
Anna wich unwillkürlich zurück und geriet ins Rutschen. Er schrocken schrie sie auf. Ein Lederhandschuh packte ihren Ell bogen. Raoul hatte das Hindernis mit einem geschmeidigen Satz überwunden und zog sie mit festem Griff zu sich heran. Als könne er ihre Gedanken erraten, lächelte er: »Hier stehst du sicher.«
Anna bezweifelte das, solange er in der Nähe war. Seine tau feuchte Cotte streifte sie, und sie spürte seine Körperwärme. Schnell trat sie zur Seite. Hinter ihm war sein Diener Maimun her angekommen und kniete bei dem Kaplan nieder. Er streifte die Ka puze ab und runzelte die Stirn, als er die offene Kopfverletzung sah. Vorsichtig bewegte er die Glieder des Gestürzten und betastete den Bluterguss um die Augen. Dann sah er Raoul ernst an und schüttelte den Kopf. Anna schlug die Hand vor den Mund und be tete stumm.
Als gebe er nichts darauf, warf Raoul seinen dunklen Mantel ab. Er rollte ihn zusammen und schob ihn unter die Füße des Gestürz ten. Anna hätte dankbar sein sollen. Sie war erleichtert, doch zu gleich hasste sie ihn dafür, dass ausgerechnet er es war, der half. Tränen der Wut und Verzweiflung liefen ihr über die Wangen.
Einer der Knechte war zur Burg gelaufen und kam mit saube ren Tüchern zurück. Raoul fing den Packen mit einer Hand auf. Vorsichtigbegann Maimun, den gebrochenen Schädel zu ver binden.
»Wir müssen verhindern, dass sein Atem aussetzt und die Or gane den Dienst versagen«, erklärte er. Behutsam breitete er Mau rus’ Arme aus, um ihm das Atmen zu erleichtern. Anna folgte den geübten Griffen. Diese Sicherheit gab ihr etwas Hoffnung. »Be wegt ihn so wenig wie möglich. Nur wenn er sich noch einmal er bricht, müssen wir ihn zur Seite drehen. Und geht weg von seinem Kopf, alle beide!«
Anna griff nach Maurus’ knochigen Füßen, um sie zu halten. Im selben Moment beugte sich Raoul über ihn, und ihre Blicke begegneten sich über dem Körper.
Rasch sah Anna zur Seite. Sie begann lautlos zu weinen. Immer traf es die Falschen, erst Martin und jetzt Vater Maurus.
Der flache Atem verstummte.
»Vater Maurus!«, rief Anna. Sie wollte aufspringen, doch Mai mun schob sie zur Seite. Er legte die Hand auf die Brust des Ka plans. Als er keinen Puls fühlte, drückte er kräftig mit beiden Hand wurzeln darauf, dann blies er ihm Luft in den Mund.
»Nicht auch noch er!«, flüsterte Anna. »Nein!«
Raoul erhob sich langsam und trat zurück. Anna schloss die Au gen. Sie wusste, dass es zu spät war, ehe Maimun die Hände sin ken ließ.
Die Männer bekreuzigten sich. Jemand hatte ein Brett und Seile gebracht. Als sie den Toten auf den Pfad schleiften und der schmächtige Leichnam über die Unebenheiten gezerrt wurde, schlossen sich Annas gefaltete Hände verzweifelt ineinander. Auf dem sicheren Boden legten die Knechte ihn auf das Brett. Nie mand sprach ein Wort.
Irgendwie kam sie zurück auf den Pfad. Hartmut streckte ihr die Hand entgegen und zog sie die letzten Schritte nach oben. An nas Lippen zitterten. Sie sank in die Hocke. Fassungslos schlug sie die Hände vors Gesicht und weinte.
Einwiderlicher Geschmack lag ihr auf der Zunge, auf einmal hatte sie das Gefühl, der Boden käme ihr entgegen.
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