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Die Gauklerin von Kaltenberg

Titel: Die Gauklerin von Kaltenberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Freidank
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Haltsuchend griff sie nach einem Stamm, dann würgte sie und übergab sich.
    Ihre Hände bebten, und die Tränen strömten unaufhaltsam über ihre Wangen. Es dauerte einige Zeit, bis sie sich gefasst hatte und aufblickte.
    Unerreichbar hoch über ihr ragte der Palas aus dem Wald. Die Männer waren mit dem Leichnam hinter den Bäumen verschwun den. Nur Raoul stand wenige Schritte oberhalb auf dem schma len Pfad – zwischen ihr und dem Burgtor.
    Langsam erhob sich Anna. Ihre Finger krallten sich in den Stoff des Kleides, und ihr Magen krampfte sich zusammen. Sie waren allein. Außerhalb der Mauern.

9
    Kleine Tröpfchen glänzten auf Raouls dunkler Cotte, deren Saum schlammbeschwert an seinen Stiefeln klebte. Vermutlich war er unbemerkt zurückgeblieben, als die Aufmerksamkeit aller auf den Toten gerichtet war. Er trug kein Schwert, aber das würde er auch nicht brauchen. Langsam kam er auf sie zu, die Hand locker auf den Dolch im Gürtel gelegt. Eine Flucht war aussichtslos: Links versperrte ihr der Erdrutsch den Weg. Unterhalb der Burgmauer krallten Vogelbeeren und Hagebutten ihre Wurzeln in den Hang, und im Wald am Hang hätte er sie mühelos eingeholt. Anna zwang sich, nicht wegzulaufen. Er konnte sie töten, aber sie würde ihm nicht zeigen, dass sie Angst hatte.
    »Es ging Euch nicht darum, Maurus zu retten!«, kam sie ihm hasserfüllt zuvor. Sie wischte die Tränen ab und verschmierte da bei ihr Gesicht. »Ihr wolltet mich hinabstürzen.«
    Er kam noch näher, bis er nur noch wenige Schritte entfernt war. Anna wich keinen Fußbreit zurück, und er pfiff durch die Zähne. »Du bist stur wie ein Maultier.«
    »Wir sind so in Baiern. Daran sind schon ganz andere zerschellt als Ihr!« Erschrocken machte sie sich klar, dass ein Ritter ein Mäd chen ihres Standes wegen weit weniger umbringen konnte. Was machte dieser Mann mit ihr, dass sie derart die Beherrschung verlor?
    »Für eine Bauerndirne bist du nicht einmal dumm.« Seine trü gerische Freundlichkeit verschwand, und die unterdrückte Wut in seiner Stimme war nicht zu überhören. »Der Gedanke ist mir wirk lich durch den Kopf gegangen. Es wäre ein Leichtes gewesen, dich zu töten. Aber alles zu seiner Zeit. Gegen das, was ich will, fällt selbst ein Fluch nicht ins Gewicht. Vorerst.«
    Waskeineswegs bedeutete, dass das, was er stattdessen mit ihr vorhatte, viel besser war. Anna hätte eher einem hungrigen Wolf im Wald vertraut als ihm. Obwohl er nicht herankam, ließ seine bedrohliche Nähe ihren Puls schneller schlagen. Unbehaglich fuhr sie sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. Er konnte sie hier ins Gebüsch zerren, nur um Ulrich zu demütigen, und nie mand würde ihre Schreie hören.
    »Ich will Burg Kaltenberg.« Raoul wies mit dem Kopf den Hang hinauf. »Und ich werde nicht abreisen, ehe sie nicht mein ist. Sag das deinem Liebhaber!« Dann wandte er sich ab und ging den Weg zurück.
    Wenn Anna geglaubt hatte, Ulrich würde sie nun bezüglich Raouls ins Vertrauen ziehen, wurde sie enttäuscht. Er schob sie nur hastig vom Fenster des Rittersaals weg, da Gertraut neugierig hinauf schielte. Seine undurchsichtigen Augen verrieten nichts, als er meinte, sie solle sich nicht ihren hübschen Kopf zerbrechen. Ob wohl sie wusste, dass er nicht einmal Jutha von seinen Geschäften erzählte, war sie enttäuscht.
    Bis zum Erntedankfest hatten sie die Burgmauer so weit instand gesetzt, dass sie den Winter und das Tauwetter im Frühjahr über stehen würde. Wenn sie nicht bei Ulrich oder bei der Arbeit war, übte Anna mit Falconet Lesen. Seit Vater Maurus’ Tod war die kahle Schreibstube im obersten Stockwerk verlassen. Von hier aus überblickte man den Lechrain mit seinen Wäldern und Türmen kleiner Burgen. Einziger Schmuck war ein schlichtes Holzkreuz, und durch das Fenster zog es, aber trotzdem kam Anna gern hier her. Sie war es, die jetzt dafür sorgte, dass die Federn immer ange spitzt waren, dass das Pergament in einer Truhe aufbewahrt wurde, wo es Nässe und Kälte nicht ausgesetzt war. Es schien ihr das Min deste zu sein, was sie dem Toten schuldete. Und obwohl ihr manchmal vor Kälte die Finger steif wurden, liebte sie das Kratzen der Feder auf dem weichen Untergrund.
    Dieersten frostigen Nächte kündigten den Winter an, als Fal conet die gewundene Steintreppe heraufkam. Sorgfältig vollen dete Anna den feucht glänzenden Buchstaben auf dem Blatt und legte die Feder ab. Wenn sie die Minuskeln malte, hatte sie das Ge fühl, an die Macht eines

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