Die Gauklerin von Kaltenberg
fassen und taumelte, als er die Hand zurückzog. Eine Ohrfeige schleuderte sie so heftig ge gen die Wand, dass ihr die Luft wegblieb. Sie spürte seinen Körper auf ihrem, die Hand legte sich wieder auf ihr Gesicht. Der harte Widerstand von Metall drückte auf ihre Hüfte, und ihr Herz setzte einen Schlag aus. Der Mann trug eine Waffe.
In dem Augenblick, als sie zu ersticken glaubte, löste er seine Finger und packte sie an beiden Handgelenken. Stöhnend sog Anna die Luft ein. Ein leichter Duft brannte sich ihr ins Gedächt nis – herb und fremd. Noch nie hatte sie erlebt, dass ein Fahrender ein Parfüm benutzte. Er nagelte ihre Hände neben dem Kopf an der Wand fest, sie schüttelte die Haare aus dem Gesicht.
»Verdammter Mörder!«, schrie sie hasserfüllt. In ihrer Panik riss siesich los, zog den Dolch aus seinem Gürtel und wollte ihn blindlings nach seiner Brust stoßen. Im letzten Augenblick wich er zurück.
»Du?«, keuchte Raoul. Sofort hatte er sich wieder in der Ge walt. Er hob seinen Handschuh auf und streckte die Hand aus. Die Bewegung war ruhig – eher so, als wolle er sie erinnern, dass ihr Stand und Geschlecht verboten, eine Waffe zu führen. Wenn sie ihn nicht tötete, würde er sie umbringen. Annas Finger schlossen sich um den Griff, um zuzustoßen. Da sah sie in seine Augen.
Langsam ließ sie den Dolch sinken.
Raoul nutzte die Atempause. Ehe sie begriff, was geschah, hatte er ihr die Waffe entwunden. Als er sie in den Gürtel steckte, fielen ihr seine Hände auf, schlank, aber kräftig. Mühsam kämpfte Anna gegen den Impuls an, sich zu bekreuzigen. Nein, dachte sie, der Teufel war kein stinkender Hahnrei mit Bocksfüßen. Der Teufel war ein junger Mann. Ein beunruhigend schöner Mann.
Ihre Wange brannte, und sie musste sich die Schulter verletzt haben. Das nasse Haar fiel ihr wie ein klammer Schleier auf die Brust, das Wasser tropfte auf ihre nackten Füße und zwischen die Zehen. Anna wartete nicht, ob Raoul den Burgfrieden brechen würde. Sie stürzte an ihm vorbei auf den schmalen Türspalt zu, durch den das Licht hereinfiel. Gewandt drückte sie sich ins Freie und rannte über den Hof und die Stiege zu ihrer Kammer hinauf.
Am Treppenabsatz blieb sie stehen und begann zu zittern. Sie hatte die Gelegenheit gehabt, ihn zu töten. Warum hatte sie es nicht getan?
8
Regnerische Stürme fegten die Blätter von den Bäumen, ehe der Herbst die Laubwälder um Kaltenberg in ein rot und golden schim merndes Juwel verwandeln konnte. Nach außen hin tat Raoul nichts, was einem Ritter nicht anstand. Doch Anna wurde das Ge fühl nicht los, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis er sein wah res Gesicht zeigen würde. Schon am ersten Tag fiel ihr auf, dass er alleine ausritt – Ulrich hätte die Abwechslung doch begrüßen und ihn begleiten müssen. Offenbar war der Fremde so willkommen wie der Aussatz. Ihre nächtliche Begegnung hatte sie verwirrt. Manchmal beobachtete sie ihn heimlich bei der Arbeit, aber nichts ließ erkennen, was er vorhatte. Die schützenden Mauern allein zu verlassen, wagte Anna trotzdem nicht. Hier drinnen schützte sie wenigstens der Burgfriede.
Der aufgeweichte Boden drohte unter den Mauern einzusin ken, und Ulrichs Knechte mussten den Hang unterhalb der Burg mit Palisaden abstützen. Am zweiten Tag nach Raouls Ankunft brachte endlich ein leichter Föhn etwas Sonne, so dass sie sich ans Werk machen konnten. Der Burgherr beaufsichtigte die Arbeiten selbst. Wenn seine Gemahlin auf dem abschüssigen Gelände stürzte, könnte der erhoffte Stammeshalter Schaden nehmen.
»Im nächsten Frühjahr werden wir auch die Ostmauer erneuern müssen«, rief Ulrich seinem Waffenmeister zu, als Anna den Pfad herabkam. In einer kurzen Bauerncotte stand er auf der Nordostseite, wo Knechte und Handwerker schwitzend die Pfosten in den Schlamm rammten. Es war eine gefährliche Arbeit. Der Boden war locker und abschüssig, und herausgerissene Wurzeln behinderten sie. Aber die Mauern mussten halten – und nicht nur derBurg wegen. Wenn der Hang abrutschte, würden auch die dar unterliegenden Felder Schaden nehmen.
Als Anna ihren Krug mit Dünnbier abstellte, fiel ihr auf, dass die Männer nicht scherzten. Sonst nutzten sie das gemeinsame Scharwerk, um Neuigkeiten auszutauschen, aber heute arbeite ten sie verbissen. Immer wieder traf ein widerwilliger Blick den Burgherrn und auch Anna.
Sie konnte sich denken, was sie tuschelten. Ihre eigene Mutter hatte früher oft genug wie ein Häher auf den
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