Die Gauklerin von Kaltenberg
reichen Falten herab. Sie warf Raoul eine scherzhafte Bemerkung zu. Die Antwort war offenbargalant, ihre Wangen überlief ein rötlicher Hauch. Anna hatte sich schon gewundert, warum Jutha neuerdings den Tratsch über seine magischen Kräfte verbot. Ihr war aufgefallen, dass die Gespräche der Frauen mehr um sein gutes Aussehen als um den Teufel kreisten. Offenbar war selbst Ulrichs Gemahlin seinen höfischen Schmeicheleien erlegen.
»Du Ratz, du g’scherter!«, riss Gertraut Anna aus ihren Gedan ken. »Das wird in einem guten Haus nicht gemacht!« Rosa hatte sich das Fleisch von Annas Brot geangelt, das den Dienern die Teller ersetzte. Beschämt grinsend gab das Mädchen ihre Beute zurück. Selbst auf der Burg waren die Töpfe nicht mehr voll. Für die Hunde, die am Boden auf die Reste warteten, würde nicht viel bleiben.
Gertrauts Aufmerksamkeit wurde abgelenkt, als sich Gernot die triefende Nase am Tischtuch abwischte. Offenbar fühlte sich die Alte verantwortlich für die Manieren des Gesindes. Rosa nutzte die Gelegenheit und bediente sich bei ihr.
Die Stimmen am Herrentisch wurden plötzlich lauter. Ulrich warf seinem Gast eine Bemerkung zu. Anna verstand zwar nicht, was dieser erwiderte, aber es war sicher nichts Freundliches. Jutha war heftig errötet, offenbar setzte er seine Vorzüge rücksichtslos ein. Anna versuchte, Ulrich mit einem Blick zu warnen, doch er sah nicht einmal nach dem Gesindetisch. Raoul hatte sich zurück gelehnt, und die schwarzen Locken umrahmten sein Gesicht. Als er sie bemerkte, lächelte er kalt.
Beunruhigt blickte Anna nach dem unteren Ende des Tisches, wo Falconet die Reste aus der Schüssel tunkte. Sie bedeutete Ger not, ihn anzustoßen. Aber der Gaukler nickte ihr nur freundlich zu und widmete sich wieder dem Essen.
»Sing etwas!«, zischte Anna. Sie machte eine Geste, als würde sie Flöte spielen. »Mach Musik!« Oft hörte sie ihn bei der Arbeit und lief zu ihm, wenn niemand hinsah. Inzwischen kannte er die Lieder, die ihr gefielen, und für sie sang er sie immer wieder. Jetzt könnteMusik die Anspannung lockern und Ulrich und Raoul voneinander ablenken.
Falconet grinste, hatte sie aber offensichtlich nicht verstanden. Genüsslich leckte er sich die dünnen Finger ab und griff nach einem neuen Stück grobem Dienstbotenbrot. Seine ganze Auf merksamkeit war auf die kostbare Fleischmahlzeit konzentriert.
Anna gestikulierte wütend, aber er begriff noch immer nicht – oder er wollte nicht begreifen. Sie dachte an Raouls Gesichtsaus druck, als er mit dem Schwert über Ulrich gestanden hatte. Sie würde nicht zulassen, dass es noch einmal so weit kam. Entschlos sen nahm sie einen tiefen Schluck aus dem Humpen und wischte sich den Schaum von den Lippen. Dann stand sie auf.
Ihr Herz raste. Wenn Falconet und sie allein waren, wenn er ihr Lesen und Schreiben beibrachte, sangen sie oft gemeinsam. In den niedrigen Gewölben hallten ihre Stimmen, und irgendwann un terbrachen sie sich lachend. Obwohl Anna kein Wort von dem verstand, was sie sang, liebte sie es. Aber nie hätte sie es gewagt, vor anderen zu singen. Sie hörte förmlich die keifende Stimme ihrer Mutter, sie würde auf der Straße enden.
Ulrich fuhr seinen Gast an. Die Adern an seinem Hals traten hervor, er sprang auf. Schnell begann sie das erste Lied, das ihr ein fiel:
» Estuans interius ira vehementi,
in amaritudine loquor mee menti …«
Sie hörte eine Flöte einsetzen – Falconet hatte endlich begrif fen! Die Diener tuschelten, aber jemand brachte sie zischend zum Schweigen. Die wütende Beschimpfung blieb Ulrich im Hals ste cken. Anna war so verblüfft, dass sie einen Moment aufhörte zu singen. Die Männer ließen sich tatsächlich ablenken!
Die Stille wurde unerträglich. Der Gaukler nickte ihr zu, und sie fuhr fort:
»Factus de materia levis elementi
folio sum similis, de quo ludunt venti. «
DieWorte brachen aus ihr heraus wie ein Aufschrei, der ver borgen in ihr geschlummert hatte, ängstlich verschlossen hinter unsichtbaren Mauern. Es war, als würde sie in einen Spiegel schauen und darin zum ersten Mal ihre Seele sehen.
Langsam setzte der Burgherr sich wieder. Sie bewegte sich zu seinem Ende der Tafel und warf den Zopf über die Schulter. Die Gesichter verschwammen. Sie konnte nicht mehr zurückhalten, was sie in den letzten Wochen fast erstickt hatte: Trauer um die Menschen, die sie verloren hatte, aber auch die Freude, mit jedem Atemzug zu spüren, dass sie lebte. Und die Sehnsucht, sich
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