Die Gauklerin
ihrem Weg zum Bodensee und von dort zum Hochrhein ganz grauenhaft gehaust. Was hätte Matthes darum gegeben zu erfahren, wie es um Ravensburg stand.
Zum Zweiten war der Hilferuf des bayerischen Kurfürsten eingetroffen: Bernhard von Weimar sei gegen die Feste Regensburgvorgerückt, das Tor zu Bayern und den Erblanden. Wenn Regensburg verloren sei, sei alles verloren. Bald darauf kam dann auch der Befehl des Kaisers: Die Regimenter des Herzogs von Friedland hätten sich ohne Verzögerung aufzumachen und Regensburg zurückzuerobern. Da geschah, was niemand erwartet hatte: Vor seinen versammelten Obristen und Generalspersonen hatte Wallenstein dem kaiserlichen Gesandten ein klares Nein als Antwort gegeben. Er denke nicht daran, im Winter gegen den Weimaraner zu ziehen, hatte der Friedländer an jenem Morgen verkündet, in weißem Pelzmantel auf seinen Krückstock gestützt. Die Festung Regensburg werde auch noch im folgenden Frühjahr stehen. Er habe nicht die Absicht, seine Soldaten durch Schnee und Eis zu jagen, nur um sie krepieren zu sehen.
Matthes war mehr als erleichtert, denn der Winter hatte sich längst mit klirrender Kälte übers Land gelegt. Und Mugge brauchte Ruhe und Wärme, wollte er wieder auf die Beine kommen. De Parada indessen hatte seine Bestürzung über Wallensteins offene Insubordination kaum verbergen können: «In Wien und in Bayern wird man das nicht einfach hinnehmen. Böse Folgen wird das haben.»
In der Tat: Der Generalissimus hatte seinem Herrn die Gefolgschaft verweigert – aus Rache für jenes Ränkeschmieden damals im Reichstag? Seither war nichts geschehen hier in Pilsen, alles ging seinen Gang. Wallenstein hatte sich im Bürgerhaus am Markt eingeigelt, die Soldaten wärmten sich in den Wirtshäusern. Matthes warf einen prüfenden Blick auf seinen Reiterbuben. Es schien ihm besser zu gehen. Jetzt war er eingeschlafen, sein Atem ging ruhig und gleichmäßig. Vielleicht würde er sich noch auf einen Krug Bier zu de Parada gesellen.
Ein Jahr lang hatte Wallenstein keinen Krieg geführt, in der Absicht, den Frieden zu gewinnen, den religiösen wie den weltlichen, und war diesem Ziel doch keinen Schritt näher gekommen. Matthes ahnte: Dieses Winterlager in Böhmen, es war dieRuhe vor dem Sturm, wenn kein Blatt im Wind sich regt, keine Welle die Oberfläche des Wassers kräuselt, während das Wetter in der Ferne sich schwarz zusammenbraut. Das allein war es indes nicht, was ihn des Nachts nicht mehr schlafen ließ. Das Ungeheuerlichste, was er sich denken konnte, war geschehen. Beim Angriff auf die schlesische Festung Schweidnitz war er auf Jakob gestoßen. Sein kleiner, braver Bruder hatte sich dem Dienst im sächsischen Heer verpflichtet, hatte ihre Mutter schutzlos und allein zurückgelassen! Mit Jakob, so viel war nun klar, mit Jakob war er fertig.
Voller Unruhe schritt Marthe-Marie im Zimmer auf und ab.
«Wo der Junge nur bleibt?»
«Mutter! David wird bald zwölf, er ist kein Kleinkind mehr. Außerdem kommt er nach der Schule nie ohne Umwege nach Hause, du kennst ihn doch inzwischen.»
«Du hast ja Recht.» Sie setzte sich auf den Bettrand. «Was bin ich wieder müde. Wie ein kreuzlahmer Gaul.»
Agnes betrachtete ihre Mutter. Wie alt sie geworden war in den letzten Jahren. Doch dass Marthe-Marie sich oftmals so abgeschlafft, so ausgelaugt fühlte, konnte kaum an der täglichen Arbeit liegen; da hatte sie in ihrem Leben schon anderes mitgemacht. Prinzessin Antonia hatte damals ihr Versprechen wahr gemacht und veranlasst, dass ihre Mutter bei ihr einziehen durfte, bei freier Kost und Logis. Allerdings war vom Frauenzimmerhofmeister verfügt worden, sie müsse dafür den anderen Kammermägden zur Hand gehen. Es sei ohnehin zu wenig Personal im Schloss.
Zweieinhalb Jahre war das nun schon her. Verbittert und verstört war ihre Mutter hier angekommen, ohne Lebensfreude, ohne jegliche Zuversicht, dass das Schicksal auch für sie eines Tages wieder eine bessere Wendung nehmen könnte. Doch David hatte geschafft, was Agnes allein niemals vermocht hätte: Ihre Mutter,seine Großmutter, hatte wieder zu lächeln gelernt. Marthe-Marie liebte ihren Enkelsohn inzwischen abgöttisch, und David liebte sie ebenso. Ihm erzählte sie beim Einschlafen Sachen, von denen Agnes noch nie gehört hatte, kurze, drollige oder abenteuerliche Geschichten aus der Zeit als Gauklerin. Agnes tat dann immer so, als höre sie nicht zu; sie war sich unsicher, ob ihre Mutter wollte, dass sie von all diesen
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