Die Gauklerin
meine Söhne nie wieder zu sehen. Schau, ich bin alt, da verliert man schneller die Hoffnung. Allein der Gedanke, dass sie sich in diesem Krieg auf gegnerischen Fronten gegenüberstehen. Was, wenn sie in einer Schlacht aufeinander treffen?»
«Aber Jakob und Matthes sind Brüder! Niemals würden sie die Waffen gegeneinander erheben.»
«Bist du dir da so sicher?»
«Ja. Außerdem ist Jakob Feldscher. Er hat seinen Platz hinterden Verbänden und nicht auf dem Schlachtfeld.» Dabei wusste Agnes selbst, dass nach Gefechten oft genug auch der Tross mit den Frauen, Kindern und Kranken von den Siegern heimgesucht wurde.
Sie wartete, bis ihre Mutter eingeschlafen war. Dann entzündete sie das Öllämpchen am Waschtisch, öffnete leise die Truhe neben ihrem Bett und tastete nach dem Brief. Dabei fuhr ihre Hand über eine lederbezogene Schatulle. Sie enthielt Marthe-Maries Erlös aus dem Verkauf des Ravensburger Hauses. Agnes hatte nie gefragt, wie hoch die Summe sei, noch hätte sie sich erdreistet nachzusehen. Sie wusste nur, dass Jakob einen Teil des Geldes für neue chirurgische Instrumente erhalten hatte, ein anderer war für die Reise aufgebraucht. Dennoch schien noch einiges übrig zu sein, das Marthe-Marie für Zeiten der Not oder der Krankheit eisern zusammenhielt.
Agnes zog die Blätter hervor und hielt sie in den Schein der Lampe. Reichlich zerlesen und zerknittert war das Papier, so oft schon hatten sie und ihre Mutter Jakobs letzten Brief zur Hand genommen. Er war auf den 25. Oktober des Vorjahres datiert, und obgleich in Regensburg aufgegeben, erst im neuen Jahr hier eingetroffen. Seither hatten sie nichts mehr von Jakob gehört, und mittlerweile sangen die ersten Amseln ihr Morgenlied. Sie begann zu lesen.
Liebe Mutter, liebe Schwester,
wir haben uns in Ulm auf der Donau eingeschifft und werden in den nächsten Tagen unsere Truppen in Regensburg einlegen, dem Tor zu Bayern und den habsburgischen Erblanden. Mit zehntausend Mann sind wir unterwegs.
Ich habe den Dienst im sächsischen Heer quittiert und diene jetzt den Schweden unter Bernhard von Weimar, dem einzig verlässlichen Bundesgenossen unter den Protestanten.
Doch seid unbesorgt, Gott hat bisher immer die Hand über mich
gehalten. Und in Regensburg wird es keinen Widerstand geben, denn den protestantischen Bürgern sind die Kaiserlichen verhasst. Es heißt, sie warten nur auf die Schweden, um ihnen den goldenen Schlüssel der Stadt übergeben zu dürfen. Und Bernhard von Weimar, auch wenn er den Ruf eines zuweilen tollköpfigen Draufgängers hat, ist der fähigste und geschickteste Feldherr der Schweden. Unter ihm herrscht dieselbe Disziplin und Frömmigkeit wie einst unter Gustav Adolf. Zweimal täglich hält der weimarische Hofprediger Gottesdienst, Trosshuren werden im Lager ebenso wenig geduldet wie Duelle, Schwarzkünste oder Gewalt gegen Zivilpersonen. Auch führen wir Feldschulen für Kinder und ein eigenes Lazarett mit uns. Mir stehen hier vier Helfer zur Verfügung.
Doch nun zu etwas ungleich Wichtigerem. Ich habe lange gezögert, ob ich euch davon berichten soll. Doch was nutzt es, die Augen vor den Tatsachen zu verschließen. Ich bin Matthes begegnet, vor etwa drei Wochen im Schlesischen. Er ist tatsächlich in Wallensteins Leibregiment aufgestiegen. Es war bei einem Angriff auf unsere Festung, Matthes war keinen Steinwurf von mir entfernt, wir haben uns in die Augen gesehen. Diese Begegnung hat mich wie der Blitz getroffen.
Ich hatte immer geglaubt, Matthes sei einst aus Abenteuerlust in diesen Krieg gezogen und würde bald eines Besseren belehrt werden. Doch nun hat er sich, kaum dass Wallenstein wieder auf dem Kriegstheater erscheint, ein zweites Mal vor den Karren dieser papistischen Bluthunde spannen lassen. Pfui Teufel!
Glaubt mir – ich hätte alles darum gegeben, mit ihm zu reden, doch es gab keine Gelegenheit. Nun hoffe ich auf Regensburg, denn schon schreit der Bayernfürst um Hilfe, und wenn es sich Wallenstein nicht vollends mit den Mächtigen im Reich verderben will, wird er kommen müssen. Und mit ihm Matthes. Dann werde ich Gelegenheit finden, meinen Bruder aus seiner Verblendung zu reißen, sonst ist er mein Bruder nicht mehr.
Von ganzem Herzen hoffe ich nun, dass ihr alle wohlauf seid.
Und dass dieser Brief euch bald erreicht, denn den Postreitern wird es immer schwerer, ihre Routen einzuhalten. Versprecht mir, Stuttgart nicht zu verlassen, denn in der Residenz seid ihr so sicher wie nirgendwo im Augenblick. In
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