Die Gauklerin
Dingen erfuhr. Vielleicht aber war genau das ihre Absicht, vielleicht brachte Marthe-Marie es nicht anders über sich, ihrer Tochter etwas von sich preiszugeben. Denn Agnes’ Flucht mit Kaspar war immer noch etwas, das wie ein Fremdkörper zwischen ihnen stand, auch wenn sie ansonsten wieder zueinander gefunden hatten wie in früheren Zeiten.
«David wird gleich hier sein. Und sofort nach dem Abendessen legst du dich schlafen. Na also, ich hör ihn schon im Stiegenhaus trampeln.»
Mit verschwitztem Gesicht stürmte der Junge zur Tür herein.
«Einen Bärenhunger hab ich. Gehen wir gleich in die Küche runter?»
«Erst einmal guten Abend, mein Sohn. Und du hast schon wieder keine Mütze auf. Bei dieser Hundekälte!»
«Guten Abend.» Er drückte Agnes einen flüchtigen Kuss auf die Wange, dann hockte er sich neben Marthe-Marie und schlang seine Arme um ihre Schultern. Deren Gesicht hellte sich augenblicklich auf.
«Stell dir vor, Großmutter, der Schulmeister hat gesagt, ich darf ab Sommer in die Lateinschule. Er hat gesagt, ich bin in allen Disziplinen der Beste. Außer im Rechnen.» In gespielter Scham verzog er das Gesicht.
«Das ist ja wunderbar!» Marthe-Marie zog ihn an sich.
«Du kleiner Prahlhans», sagte Agnes. «Das glaube ich erst, wenn es mir der Schulmeister selbst verkündet.»
David schob die Unterlippe vor. «Dann frag ihn doch morgen. Und das mit dem Rechnen – das ist auch nicht so wichtig.»
«So? Findest du? Da könntest du ruhig ein wenig mehr in die Fußstapfen deiner Großmutter treten.»
«Sei nicht so garstig, Agnes, und freu dich lieber. Weißt du was, David? Wir werden die nächsten Tage und Wochen einfach ein wenig rechnen üben. Willst du?»
«Na ja, wenn es sein muss. Stimmt es wirklich, dass du einmal eine berühmte Rechenmeisterin warst?»
Jetzt lachte Marthe-Marie. «Wer hat dir denn das erzählt? Deine Mutter?»
«Du selbst. Du hast dich einmal verplappert. Bitte, Ahn, erzähl mir davon.»
«Ein andermal. Morgen vielleicht. Jetzt gehen wir essen, und dann möchte ich gleich zu Bett.»
Als sie aus der Gesindeküche zurückkehrten, lieferten sie David im Knabenzimmer ab, wo er seit Marthe-Maries Ankunft mit den anderen Buben des Gesindes schlief.
«Möchtest du noch einen kleinen Spaziergang machen, vor dem Schloss?», fragte Agnes.
«Heute nicht. Ich bin wirklich rechtschaffen müde.»
«Ist dir die Arbeit zu viel? Ich könnte mit Prinzessin Antonia reden.»
«Ach was. Das ist nur an manchen Tagen so, das vergeht wieder.»
Als sich Marthe-Marie in ihrer Kammer vor den Waschtisch stellte und bis auf ihr Unterkleid auszog, betrachtete Agnes den hageren Körper ihrer Mutter. Die Verköstigung hier im Schloss ist auch nicht mehr die von einst, dachte sie. Andererseits konnten sie Gott wirklich danken, dass nicht der Hunger Küchenmeister war, wie in so vielen Dörfern und Städten. Und sie dankte Gott ein weiteres Mal, dass ihre Mutter nicht mehr in Oberschwaben war, wo alles drunter und drüber ging. Schon damals, kurz nach dem Kirschenkrieg gegen die Katholischen, war ihre Reise von Ravensburg nach Stuttgart nicht ganz ungefährlich gewesen, undMarthe-Marie und Jakob hatten sich einer bewachten Reisegruppe anschließen müssen, was wohl ein Vermögen gekostet hatte. Heutigentags wäre eine solch lange Reise eine Gefahr für Leib und Leben, ein Spießrutenlaufen zwischen Banden von Wegelagerern und marodierenden Söldnerhaufen.
Nachdem sich Marthe-Marie Gesicht und Hals gewaschen hatte, kämmte sie sorgfältig ihr weißes Haar. «Ich finde, David hat eine Belohnung verdient für seine guten Leistungen. Wir sollten uns etwas ausdenken.»
Agnes musste beinahe lachen. «Bei deinen eigenen Kindern warst du nicht so großzügig.»
«Nein?» Ihre Mutter blickte sie ehrlich erstaunt an. Dann lächelte auch sie. «Wie dem auch sei – machen wir ihm ein kleines Geschenk. Einverstanden?»
«Ja.»
Als Marthe-Marie unter der warmen Daunendecke lag, setzte sich Agnes zu ihr an den Bettrand. Sie wusste ja ganz genau, was ihre Mutter so müde machte. Es war die Sorge um ihre Söhne.
«Gute Nacht, Mutter.» Sie drückte die schmale Hand, die auf dem Saum der Bettdecke lag. «Ich bin jeden Tag aufs Neue froh, dass du hier bist. Und ich glaube ganz fest daran, dass eines Tages auch Jakob und Matthes wieder bei uns sein werden. Wir dürfen nur die Hoffnung nicht aufgeben.»
«Ach Agnes, was soll ich machen gegen die Angst, die mich jede Nacht aus dem Schlaf reißt? Die Angst,
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