Die Gauklerin
hervor. Kein Stückchen Fleisch würde von ihr übrig bleiben, die Tiere des Waldes warteten sicher schon auf diese unverhoffte fette Beute. Nein, sie musste zurück in die Höhle. War es dort nicht wärmer gewesen?
Sie nahm noch eine Hand voll Schnee, dann kroch sie zurück auf ihr Lager, das sie fast schon als vertraut empfand. Morgen früh, ganz sicher, würden die Männer weiterziehen, und sie konnte sich wieder auf die Suche machen.
In der zweiten Nacht kam der Hunger. Zunächst nur als ein Gefühl der Leere, doch bald mischte sich bohrender Schmerz darunter, der sich immer häufiger in Krämpfen entlud. Dann musste sie an sich halten, nicht in lautes Stöhnen auszubrechen. Mit steifen Fingern zerrte sie schließlich an den Wurzeln, die wie Adern die Höhlendecke durchzogen, und kaute sie ab.
An die Finsternis hatten sich ihre Augen inzwischen gewöhnt, immerhin drang bei Tage so viel Licht durch das Eingangsloch, dass sie bald jedes Fleckchen ihres Kerkers kannte. Und es war ein Kerker, denn die Männer oben machten keine Anstalten zu verschwinden. Offenbar hatten sie sich vorgenommen, in diesemWald ihre Vorräte mit Wild aufzustocken, denn hin und wieder knallten Schüsse. Die Luft in diesem elenden Loch war stickig, Schwindel und Kopfschmerz quälten sie, wenn sie wach lag.
In der dritten Nacht schließlich beschloss sie zu sterben. Sie dämmerte vor sich hin, fühlte weder Arme noch Beine mehr, alles war kalt und taub. Doch wenn sie die Augen schloss, konnte sie warme Farben sehen, schimmernde Lichter, die sie umkreisten, die sich bewegten nach einer zarten Melodie. Die Kälte konnte ihr nichts mehr anhaben, Hunger und Durst quälten einen Körper, der weit entfernt von ihr in einem Erdloch lag und nichts mit ihr zu schaffen hatte.
Es gab keinen Tag mehr und keine Nacht, nichts mehr, was sie fürchten musste. Sie überließ sich ganz den tröstlichen Farben und Klängen, die sie einhüllten wie ein warmer Mantel. Jetzt war es ein Wiegenlied ihrer Kindheit, leise summte sie die Worte mit, ihr Vater rief nach ihr, lockte mit zärtlicher Stimme, dann spürte sie einen Druck an der Schulter, einen leichten Schlag. Das musste Jakob sein, der sie weckte. Nein, murmelte sie, lass mich schlafen. Der zweite Schlag war heftiger. Sie begann zu schluchzen. Warum ließ er sie nicht einfach schlafen? Erneut ein Schlag, diesmal schmerzhaft. Sie tastete nach Jakobs Hand, erfasste stattdessen einen hölzernen Prügel, schrie verwirrt auf. Der Prügel verschwand, und dann hörte sie deutlich die Töne einer Fidel, sie kamen von draußen, jetzt hörte sie auch die klagende Stimme, die das Wiegenlied sang, dann leise ihren Namen rief.
Die Welt war zu ihr zurückgekehrt. Langsam, ganz vorsichtig, wälzte sie sich zum Einstiegsloch, sie musste blinzeln, so grell fiel das Tagslicht in die Augen. Ein riesiger Schatten erhob sich über dem Loch, jetzt beugte er sich zu ihr herab, sie sah ein Gesicht unter dem breitkrempigen Hut, ein junges Gesicht mit zerschlagener Stirn und geschwollener Wange.
«Andres!»
Er streckte ihr beide Arme entgegen und zog sie aus dem Loch. Dann verlor sie das Bewusstsein.
Als sie wieder zu sich kam, lag sie unter einem Felsvorsprung, umschlungen von Andres’ wärmendem Körper. Nach und nach kehrten die Erinnerungen und damit auch ihre Kräfte zurück. Sie war gerettet. Was auch immer geschehen war: Andres hatte sie gefunden. Sie hob den Kopf. Der Junge schien zu schlafen, sein Atem ging tief und gleichmäßig.
«Andres?»
Er öffnete die Augen. Auf seinem geschundenen Gesicht breitete sich ein Lächeln aus.
«Alles ist gut», flüsterte er. Dann gab er sie hastig aus seiner Umarmung frei, als sei er bei etwas Schamlosem ertappt worden.
«Du hast mich gefunden.» Sie versuchte sich aufzurichten, doch gleich kehrten die Schmerzen in ihren Körper zurück. Sie stöhnte auf.
«Bleib liegen», sagte er.
Agnes starrte ihn an. «Du sprichst!»
Er nickte. «Ich habe für dich gesungen. Jetzt kann ich wieder sprechen.»
Dann schnallte er seinen Lederbeutel vom Rücken und zog eine Wasserflasche hervor.
«Trink.»
Nachdem Agnes in winzigen Schlucken getrunken hatte, sagte sie: «Dann habe ich das Lied nicht geträumt?»
«Ich habe dich mit meinen Liedern gesucht. Und du hast mir geantwortet.»
«Das hast du gehört?»
«Ich höre besser als die meisten Hunde. Schon immer.» Er zog seinen Mantel aus und hüllte ihn um Agnes, die zu zittern begann.
«Wo sind die anderen?»
«Weiß
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