Die Gauklerin
Hof, kein Dorf, wo sie hätte nach dem Weg fragen können. Da begannen vor ihrer Nase die ersten Schneeflocken zu tanzen, erst eine nach der anderen, wie in einem lustigen Fangespiel von Kindern, dann immer mehr, bis ein dichter weißer Schleier ihr die Sicht nahm. Nie zuvor hatte sie sich so schutzlos und allein gefühlt.
Sie hätte schreien mögen vor Verzweiflung, stattdessen presste sie die Lippen aufeinander und schritt vorwärts, setzte einen Fuß vor den anderen und schien doch keinen Deut voranzukommen.
Plötzlich vernahm sie Stimmen, gedämpft und undeutlich, dann sah sie schemenhafte Gestalten hinter dem weißen Flockennebel näher kommen, eine ganze Gruppe, und in ihrer Mitte ein Pferd oder Maultier.
«Magnus? Andres?», rief sie.
«Hoho, ein Frauenzimmer! Das schnappen wir uns.» Die Stimme klang gierig. Ein anderer antwortete in unbekannter Sprache.
Marodeure! O Gott, sie war auf Marodeure gestoßen! Womöglich dieselben, die ihren Trupp überfallen hatten. Sie stürzte zurück in den Wald, hörte Gelächter hinter sich, Rufe, die näher kamen, fühlte, wie ihre Kraft nachließ. Wenn sie jetzt stolperte, war das ihr Ende. Da rutschte sie ab, rutschte in eine schmale Schlucht, einen Tobel, wie man in ihrer Heimat sagte, schrammte sich dabei den Arm auf, schlug sich den Kopf an einem überhängenden Fels an – und blieb mit einem Bein plötzlich in einem Erdloch stecken. Bis über das Knie steckte sie fest. In dem dichten Schneegestöber konnte sie kaum etwas erkennen, doch der dunkle Fleck zwischen den mächtigen Baumwurzeln verriet ihr, dass das Loch wohl tief war. Von oberhalb der Schlucht hörte sie die Männer fluchen. Und dann, währendsie nach ihrem schmerzenden Knie tastete, brach sie auch mit dem anderen Bein ein.
Für einen Augenblick setzte ihr Herz aus, und die Zeit blieb stehen. Dann erst erkannte sie, dass dieses elende Loch ihre Rettung bedeutete: Als sie sich zusammenkauerte, war nicht einmal mehr ihr Kopf zu sehen. Sie war tatsächlich vom Erdboden verschluckt.
Sie saß im Loch, saß, fror und wartete, dass die Stimmen verstummen würden. Doch stattdessen stieg ihr nach einiger Zeit Brandgeruch in die Nase, deutlich hörte sie das Zischen und Knallen von nassem Holz. Es gab keinen Zweifel: Diese Banditen hatten am Rande des Tobels ihr Lager aufgeschlagen. Und sie hockte hier wie die Maus in der Falle. Ihre Beine begannen, taub zu werden, lange würde sie es in ihrem engen Gefängnis nicht mehr aushalten. Vorsichtig versuchte sie, ihre Stellung zu verändern. Da griff sie mit der linken Hand ins Leere. Tatsächlich – knapp unterhalb ihrer Schulter war unendlich viel Raum. Sie streckte den Arm aus: Ein Gang zog sich hier durchs Erdreich, tief in den Abhang hinein. Das musste eine Dachshöhle sein. Es kostete sie erhebliche Mühe, bis sie sich in den Gang gezwängt hatte, dann jedoch war es ein Leichtes, auf dem Bauch voranzurobben. Ihre Hände griffen in feuchte Erde und Wurzelwerk, ihre Augen erblickten nur tiefstes Schwarz, als sei sie erblindet. Ein kindisches Kichern entfuhr ihr: Was, wenn am Ende des Ganges der Dachs lauerte, erwartungsvoll und mit gefletschten Zähnen? Zwei, drei Ellen weiter verbreiterte sich der Gang zu einer niedrigen Höhle, die immerhin genug Raum bot, dass sie sich mit angezogenen Beinen auf die Seite legen konnte. Der Boden war mit Laub und kleinen Zweigen bedeckt und überraschend trocken. Sie zog sich ihren Umhang fest um den Leib und kauerte sich zusammen. Nur wenig später war sie eingeschlafen.
Als Agnes erwachte, war nichts als Stille und Finsternis um sie. Erschrocken fuhr sie hoch und schlug mit dem Kopf gegen einenWurzelstrang. Dann war das also kein böser Traum gewesen. Sie lag tatsächlich in dieser Höhle, mitten im Wald. Die Schramme an ihrem Unterarm brannte, und ein quälender Durst zwang sie zum Eingang zurück. Draußen herrschte Nacht, es schneite noch immer. Gierig griff sie mit beiden Händen in den Schneehaufen, der unterhalb des Einstiegslochs lag. Dann lauschte sie. Ganz schwach hörte sie mehrstimmiges Schnarchen. Die Männer waren also noch immer dort oben. Ihr wurde plötzlich eiskalt. Lisbeth und ihre Freunde waren tot, erschossen und erschlagen, dessen war sie sich nun sicher. Und sie selbst würde in diesem Erdloch langsam erfrieren, würde ihren Sohn niemals mehr in den Armen halten. Ob ein solcher Tod wohl schmerzhaft war? Ob ihr Leichnam hier jemals gefunden wurde? Wieder brach dieses überspannte Kichern aus ihr
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