Die Gauklerin
Spiegel. Ihr Körper war nur noch Haut und Knochen, das Gesicht bis hin zum Hals von hässlicher Sonnenbräune. Eine Bemerkung Jakobs fiel ihr ein, nämlich dass in Hungerszeiten eine Frau kein Kind empfangen könne. So hatte also beinah jedes Übel auch sein Gutes, dachte sie und musste beinahe lachen. Vermutlich war sie mit ihren bald vierunddreißig Jahren ohnehin zu alt zum Kinderkriegen. Nur ihr schwarzes, gelocktes Haar war noch immer kräftig und ohne eine einzige graue Strähne.
Nachdem sie sich sorgfältig gewaschen und gekämmt hatte, wählte sie ein dunkelrotes Kleid aus leichtem Taft. Es hatte einen weiten Rock und an den Ellbogen enge Ärmel, die zum Handgelenk weit und mit Spitzenmanschetten besetzt waren. Ein zierlicher Spitzenkragen säumte den Halsausschnitt. Auf eine Haube verzichtete sie, stattdessen band sie ihr Haar im Nacken zu einem kunstvollen Knoten. Dann ging sie mit klopfendem Herzen hinunter. Was würde sie hier noch erwarten?
Als sie das Speisezimmer betrat, saßen Widerhold und Faber bereits an der Tafel, neben ihnen zwei weitere Männer. Das Essen war noch nicht aufgetragen, nur einige Karaffen mit Wasser und Wein standen bereit. Die Männer erhoben sich augenblicklich.
«Das ist Agnes Marxin aus Stuttgart», stellte der Kommandant sie vor. «Leutnant Althaus und Doctor Burmeister, unser Garnisonsarzt.»
Die Männer deuteten eine Verbeugung an, der Leutnant mit ungerührter Miene, der Arzt mit einem neugierigen Lächeln. Leutnant Althaus war ihr vom ersten Augenblick an zuwider. Das Gesicht des hageren Mannes war von aschgrauer Farbe, mit schmalen Lippen und nach unten gezogenen Mundwinkeln, und die Iris seiner Augen glänzte in so hellem Grau, dass sie sich kaum vom Weiß der Augäpfel unterschied. Wie ein Gespenst, fuhr es Agnes durch den Kopf. Der Arzt hingegen, bullig und untersetzt, mit leuchtend roten Wangen, hatte etwas von einem Hanswurst. Sein Mund schien unablässig zu grinsen, und aus seinen runden Äuglein blitzte der Schalk.
«Was für eine Überraschung! Eine wahre Helena in der trüben Ödnis unserer Burg.» Burmeister schenkte ihr ein Glas schwarzroten Weines ein. «Trinken wir auf das Wohl unseres unerwarteten Gastes und auf die Schönheit der Frauen.»
Sie setzten sich, Agnes zwischen Widerhold und seinem Leutnant, ihr gegenüber Sandor Faber und der Arzt. Während Agnes in winzigen Schlucken den schweren Wein kostete, entging ihr nicht, wie Faber sie musterte.
«Was für eine gute Wahl Ihr getroffen habt», sagte er schließlich leise. «Das Kleid, meine ich. Diese burgunderrote Farbe zu Eurem schwarzen Haar.»
«Mein Freund, der Kommandant», unterbrach ihn der Arzt, «hat bereits berichtet, in welch abenteuerlicher Odyssee Ihr hierher gelangt seid. Ein wahres Rührstück. Indessen mit gutemAusgang, wie Ihr nun seht. Man wird Euch hier fürstlich verwöhnen.»
Agnes versuchte zu lächeln. «Ich bin Euch unendlich dankbar für diese Gastfreundschaft. Nur – für mich ist das Abenteuer noch nicht zu Ende. Mein einziger Wunsch ist, nach Stuttgart heimzukehren, zu meiner Familie.» Sie schluckte. «Aber das wird wohl nicht so einfach sein.»
«Da mögt Ihr Recht haben. So, wie keiner ungebeten hier hereinkommt, so kommt auch keiner hinaus. Es sei denn, unser Kommandant öffnet die Tore. Stellt Euch also gut mit ihm.»
Der Arzt kicherte, als er Agnes’ erschrockenes Gesicht sah. «Verzeiht, gnädige Frau, ich wollte Euch nicht verunsichern. Was ich sagen wollte: In der Tat würden wir Euch niemals ohne Schutz und Begleitung ziehen lassen. Ist es nicht so,
mon capitaine
?» Er blinzelte dem Kommandanten zu. «Bis sich eine günstige Gelegenheit ergibt, müsst Ihr Euch also unsere Gesellschaft gefallen lassen. Doch jetzt spannt uns nicht länger auf die Folter und erzählt von Euch.»
«Einspruch, mein lieber Medicus.» Widerhold schwenkte eine Tischglocke. «Zuerst soll unser Gast sich satt essen dürfen.»
Eine Frau und ein junger Bursche brachten das Abendessen herein: eine dampfende Schüssel mit Gerstenbrei, der nach Kräutern und Knoblauch duftete, eine Platte mit kaltem Braten und knusprig gebratenen Rebhühnern, von gedünsteten Birnen umgeben, dazu eine große Schale mit Äpfeln und Mandelmilch. Allein beim Anblick dieser Delikatessen zog sich Agnes schmerzhaft der Magen zusammen. Doch mehr noch als die Aussicht auf diese üppige Mahlzeit freute und erleichterte es Agnes, dass sie nicht das einzige weibliche Wesen auf dieser Burg war. Die Frau
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