Die Gauklerin
das?»
Else warf einen Seitenblick auf ihren Mann. «Agnes, ich will dir reinen Wein einschenken, sonst erfährst du es doch nur von den Klatschmäulern auf der Gasse. Ich weiß jetzt, dass gegen Lienhard und Kaspar eine Anzeige vorliegt. Wegen Betrugs und Schwarzhandels.»
«Das ist nicht wahr!»
Else lachte trocken. «Was glaubst du, wie er den Winter über zu all den Leckereien gekommen ist? Jetzt schau mich nicht so überzwerch an. Dein Kaspar ist kein schlechter Kerl, jedenfalls nicht besser oder schlechter als jeder andere. Er hat es wenigstens für dich getan, während mein sauberer Schwager alles in den eigenen Sack gewirtschaftet hat. Kein Gran Mehl hat er hier abgegeben.»
Am nächsten Morgen erwachte Agnes von Elses Schrei. Im selben Moment vernahm sie das dumpfe Grollen, das aus der Tiefe des Erdreichs zu dringen schien, sah sie mit Entsetzen, wie die Becher auf dem Tisch zu hüpfen begannen und sich der Türrahmen ächzend verzog.
«Gott im Himmel, verschone uns», keuchte Else, die zusammengekauertin der Ecke hockte. Dann war der Höllenspuk auch schon vorüber.
«Was war das?» Agnes konnte vor Angst kaum sprechen, ihre Glieder zitterten wie Espenlaub.
«Ein Erdbeben – wie dazumal, vor bald zwanzig Jahren.» Else holte Luft, lauschte, sprach dann weiter. «Da ist unser Häuschen zusammengestürzt, beim großen Beben. Wir konnten dem Himmel danken, dass uns nichts geschehen war, uns und den beiden kleinen Kindern. O Gott, o Gott, wenn das nur nicht ein böses Zeichen ist!»
Sie rappelte sich auf und tappte zur Steige. «Melchert? Melchert! Sakra – so antworte doch!»
«Potz hundert Gift! Was kreischst du so», kam es von oben zurück. «Lass mich weiterschlafen.»
In diesem Augenblick ergoss sich unter Agnes eine riesige Lache auf das Leintuch.
«Else!»
Mit vor Schreck geweiteten Augen starrte Agnes auf das befleckte Tuch.
«Das ist nur das Fruchtwasser», murmelte die Alte. Dann brüllte sie abermals: «Melchert! Erheb auf der Stelle deinen fetten Hintern und gib der Wehmutter Bescheid.»
Die Schmerzen, die nun folgten, waren nur der Anfang. Die schrecklichen Krämpfe raubten Agnes schier die Besinnung, in immer kürzeren Abständen schienen sie ihr den Unterleib zerreißen zu wollen. In den wenigen Augenblicken der Ruhe haderte sie mit Gott und der Natur, die dem weiblichen Geschlecht solch eine Tortur auferlegt hatten.
Als endlich, nach vierundzwanzig Stunden, eine letzte Woge des Schmerzes sie heimgesucht hatte, als ihr Körper mit letzter Kraft die Frucht nach außen getrieben hatte, war Agnes kaum noch bei Bewusstsein. Erst ein dünner Schrei brachte sie zurück in die Wirklichkeit. Sie öffnete die Augen und hob den Kopf.Hinten am Herd stand die Hebamme, eine kleine, vierschrötige Frau, und hielt ein in helles Tuch gewickeltes Bündel im Arm. Else schleppte gerade zwei Eimer herein. Es war gänzlich still im Raum.
«Else?» Agnes Stimme klang heiser. «Was ist mit dem Kind? Ist es – ist es –»
Erschöpft sank sie auf ihr Lager zurück.
«Keine Sorge, Marxin. Ihr habt den schönsten Burschen in der ganzen Esslinger Vorstadt zur Welt gebracht. Der wird den Mädchen in zwanzig Jahren wahrlich den Kopf verdrehen.»
Mit zufriedenem Lächeln, wie ein Bauer, der die Ernte eingebracht hat, beugte sich die Wehmutter zu Agnes herunter und legte ihr das Bündel in den Arm. Agnes durchfuhr von Kopf bis Fuß ein Freudenschauer, als sie zum ersten Mal ihrem Kind ins Gesicht blickte: Die Augen hielt es geschlossen, auf der glatten Stirn lag nass eine dünne Haarsträhne, das Näschen zitterte beim Atemholen. Dann schlug es die Augen auf und sah ihr erstaunt ins Gesicht.
«Es hat dieselben dunkelblauen Augen wie ich!»
«Alle Neugeborenen haben blaue Augen», lachte die Hebamme. «Und jetzt, Steigerin, gib mir einen Happen zu essen, bevor die Nachgeburt kommt.»
Vorsichtig küsste Agnes den Jungen auf die Wange. Unter dem weichen Tuch spürte sie seinen zerbrechlichen kleinen Körper. Sie war nicht mehr allein. Doch sofort überkam sie eine unermessliche Traurigkeit. All ihre Träume lagen vor ihr wie ein Scherbenhaufen. Kaspar hatte sie sitzen lassen, ganz wie es ihre Mutter prophezeit hatte, sie lebte übler als eine Dienstmagd, die wenigstens den Schutz ihres Hausherrn besaß. Niemals würde sie den Eltern von ihrem Enkel berichten, ihnen das Kind zeigen können. Um wie viel besser wäre sie gestellt, wäre Kaspar tot. Dann könnte sie wenigstens als ehrbare Witwe in ihr
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