Die Geächteten
zu Ihm sein?
Dass sie nicht völlig den Verstand verlor, hatte sie Kayla zu verdanken. Kaylas Lebensgeister hatten im düsteren Klima des Zentrums weniger schlappgemacht. Sie machte über alles Späße: übers Essen, über die Kleidung, die rote Haut, über Bridget und vor allem über die Henleys, denen sie die Spitznamen Moral und Hyäne gegeben hatte. Kayla dachte sich unzüchtige Verse über die beiden aus und bewahrte sie auf für den Moment, in dem Hannah einen Tiefpunkt hatte. Dann trug sie ihre Verse in einem grässlichen irischen Akzent vor:
Einst gab es einen Pastor, der hieß Moral.
Mit seiner Frau gab es Streit, was für eine Qual.
Jede Nacht flehte er sie an,
Doch sie wies ihn ab, ihren Mann.
Diese Hyäne wollte es nicht oral.
Hannah waren derartige Obszönitäten fremd, doch nachdem ihr anfängliches Unbehagen vorbei war, lachte sie genauso laut wie Kayla. Wenn es um die Henleys ging, konnte es nicht garstig genug sein.
Doch gegen Ende von Hannahs erstem Monat im Zentrum sank Kaylas Stimmung – sie wurde ruhelos und war leicht aufgebracht. Hannah fragte sie mehrere Male, was der Grund sei, doch sie wollte nicht darüber reden. Schließlich gestand sie ein, dass sie seit einiger Zeit nichts mehr von ihrem Freund gehört hatte.
»Im ersten Monat hier hat mir TJ alle paar Tage einen Brief geschrieben. Und nun seit zwei Wochen nicht mehr. Ich mache mir Sorgen, dass ihm etwas zugestoßen ist.«
»Was stand in seinem letzten Brief?«, fragte Hannah.
»Nur, dass er noch kein Apartment gefunden hat, aber sich bemüht, eins zu finden.«
»Ich bin sicher, dass du schon bald wieder von ihm hörst.«
Doch Kayla hörte nichts von ihm, und sie wurde mehr und mehr fahrig. Eine Woche später, an einem Montag, nahm sie Hannah nach dem Mittagessen beiseite.
»Ich habe mich entschieden«, sagte Kayla. »Wenn ich bis Freitag nichts von ihm höre, werde ich gehen. Das passt nicht zu ihm. Etwas stimmt da nicht.«
Eine Welle der Verzweiflung stieg in Hannah hoch und fiel wieder in sich zusammen. Wie sollte sie es hier ohne eine Freundin ertragen? »Es könnte andere Gründe geben, weshalb er nicht geschrieben hat«, sagte sie.
»Und welche?«
Hannah hasste sich ein wenig dafür, doch sie konnte nicht aufhören: »Was ist, wenn er nur … seine Meinung geändert hat und nicht den Mumm hat, es dir zu sagen?«
»Das würde er nicht tun«, sagte Kayla und schüttelte vehement den Kopf. »Wenn er nicht geschrieben hat, dann nur, weil er nicht schreiben konnte.«
»Was ist, wenn du falschliegst? Wohin willst du gehen?«
»Ich liege nicht falsch«, antwortete Kayla. Doch sie klang nicht mehr so sicher.
Dienstag und Mittwoch gingen vorüber. Und immer noch keine Zeile von TJ. Hannahs Angst um ihre Freundin, aber auch um sich selbst, war ständig da, und nachts konnten beide kaum noch schlafen. Der Donnerstag ging mit einer schier unglaublichen Langsamkeit vorbei. Pastor Henley war Gast in der Erleuchtung, und für drei lähmende Stunden führte er eine »Diskussion« über Gottes Blick auf die Abtreibung. Nicht einmal der Erleuchter kam zu Wort. Als die Abendbrotzeit näher rückte, fühlte sich Hannah unsagbar müde. Sie und Kayla saßen an unterschiedlichen Tischen, doch es gelang ihnen, in der Kapelle nebeneinander Platz zu nehmen. Kayla war zappelig, so sehr, dass sie einen wütenden Blick von Pastor Henley erntete. Hannah wusste, dass Kayla ungeduldig darauf wartete, wieder in den Schlafsaal zu kommen, um zu sehen, ob TJ ihr geschrieben hatte. Schweigend gingen sie nebeneinander dorthin. Auf Kaylas Nachttisch lag kein Brief. Sie ließ die Schultern hängen.
»Einen Tag hast du noch«, sagte Hannah.
»Nein.« Kayla hob den Kopf, dann bewegte sie sich mechanisch in Richtung Flur. Ihr Mund war eine schmale, entschlossene Linie. Hannah folgte ihr ins Nähzimmer und schloss die Tür hinter ihnen.
»Ich warte keinen weiteren Tag mehr«, sagte Kayla. »Das Erste, was ich morgen machen werde: Ich gehe.«
Hannah konnte nicht sprechen. Es fühlte sich an, als hätte sie einen Stein in ihrer Kehle.
Kayla nahm Hannahs Hand. »Warum kommst du nicht einfach mit mir? Wir können uns gegenseitig unterstützen.«
Hannah dachte darüber nach. Eigentlich hatte sie schon die ganze Woche daran gedacht. Aber wie würde sie leben? Und was sollte sie ihrem Vater erzählen? Er würde so enttäuscht darüber sein, dass sie das Geschenk einer Zuflucht, diese Chance zur Wiedergutmachung verschwendet hätte. Und ihre Mutter, was
Weitere Kostenlose Bücher