Die Geächteten
würde sie denken? Zum ersten Mal wurde Hannah bewusst, dass sie immer noch an der Hoffnung festhielt, man würde ihr vergeben, wenn sie ihre sechs Monate hier ertrug und bewiesen hatte, wie ernst es ihr mit der Reue war. Nicht nur Gott, sondern auch ihre Mutter. So vage diese Hoffnung auch war, wenn sie jetzt ging, würde sie komplett verschwinden.
»Ich kann nicht«, sagte sie. »Es tut mir leid.«
»Ich verstehe dich. Du hast so viel Spaß hier.« Kaylas Lächeln war angespannt, und ihre Augen waren voller Angst.
»Du wirst ihn finden.«
»Und wenn ich ihn nicht finde? Ich glaube nicht, dass ich es allein schaffe.«
»Du musst, oder sie werden gewinnen, erinnerst du dich?«
Kayla nickte, und Hannah umarmte sie schnell und heftig.
»Hier, bevor ich es vergesse.« Kayla zog ein Stück Papier aus ihrer Tasche. »Das ist meine Nummer.«
Als Hannah diese nahm, dachte sie an Billy Sikes und sein abscheuliches Angebot, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Wer hätte an diesem Tag, der sechs Wochen her war, vorhersagen können, dass sie eine echte Freundin finden würde, eine Freundin, die sie ansah und etwas anderes als dieses verachtungswürdige Verbrechen erblickte?
»Wenn du es nicht packst, schaffe ich es auch nicht«, sagte Kayla. »Du musst dir die Nummer merken, bevor du gehst, oder sie irgendwo auf deinen Körper schreiben, denn du darfst nichts mitnehmen. Ich will, dass du mir versprichst, mich sofort anzurufen, wenn du draußen bist.«
»Ich verspreche es dir.« Hannah steckte den Zettel mit der Nummer in die Tasche, und sie umarmten sich wieder, diesmal länger. Der physische Kontakt war nahezu unerträglich schön. Hannahs Eltern hatten sich stets reichlich umarmt und geküsst, und sie und Becca waren oft zur anderen ins Bett gekrabbelt. Und dann war Aidan da gewesen. Seine Berührung hatte sich angefühlt, als würde man nach Hause kommen. Wie sie das vermisste, wie sie einfach alles vermisste.
Kayla löste sich zuerst. »Du kannst allein auf dich aufpassen? Lass dich von diesem Ort nicht kaputt machen.«
Plötzlich ging die Tür auf, Mrs. Henley steckte ihren Kopf herein und starrte sie an. »Oh, hier bist du, Hannah«, sagte sie mit gespielter Überraschung. Sie berührte ihr Kreuz, und Hannah wurde klar, dass die Kreuze der Wanderer Sender enthalten mussten. Sie fragte sich ängstlich, ob darin auch Mikrofone sein könnten, und hielt das dann doch für abwegig. Wären Mikrofone darin, wären Kayla und sie schon vor geraumer Zeit entlassen worden.
»Wir haben gerade eine große Stoffspende erhalten«, sagte Mrs. Henley. »Ich möchte, dass du morgen in der Nähstube deine Arbeit aufnimmst. Du wirst Kleider für das Zentrum nähen.«
»Ja, Mrs. Henley.«
»Die Zeit nach dem Abendbrot ist dafür vorgesehen, nachzudenken, nicht unnütz herumzuplaudern«, sagte Mrs. Henley mit finsterem Blick. »Ich schlage vor, ihr beide geht jetzt, um euch dem Bibelstudium zu widmen.«
In dieser Nacht träumte Hannah davon zu fallen, wieder und wieder erwachte sie wie aus einem Albtraum. Als sie am nächsten Morgen völlig erschöpft und zu spät aufstand, war Kayla bereits gegangen. In einem letzten kleinen Akt der Verweigerung hatte sie ihr Bett ungemacht zurückgelassen. Beim Anblick des leeren Bettes überkam Hannah eine plötzliche Verzweiflung. Zerstreut wusch sie sich in aller Schnelle. Ihre Finger waren unbeholfen, und als sie versuchte, ihr Haar hochzustecken, war sie bereits die Letzte im Bad. Sie kam im Speisesaal an, als Mr. und Mrs. Henley gerade das Dankgebet gesprochen hatten. Wunderbar . Nun würde Hannah nicht nur kein Frühstück bekommen, sie musste sich auch an den Tisch von Mrs. Henley setzen.
»Ich habe eine Ankündigung zu machen«, sagte Mrs. Henley, nachdem Hannah Platz genommen hatte. »Die Wanderin Kayla hat heute Morgen vorsätzlich den Weg verlassen, und Pastor Henley musste sie des Zentrums verweisen.«
Die kleine Lüge entfachte in Hannah eine plötzliche Wut. Sie konnte die Verleumdung ihrer Freundin, nein, sie wollte sie nicht einfach im Raum stehen lassen. »Das ist eigenartig«, sagte sie.
Mrs. Henley hielt mit dem Essen inne. »Und warum ist es das?«
Hannah schaute weg, um Verärgerung vorzutäuschen. »Oh, da muss ich mich wohl geirrt haben.«
»Wie meinst du das?«
Hannah antwortete mit einem angedeuteten Schütteln ihres Kopfes.
»Worin hast du dich geirrt?«
»Es ist nur so, ich könnte schwören, dass Kayla gestern Abend gesagt hat, sie plane , das
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