Die Gebeine von Avalon

die feuchten Dächer rot leuchteten, und blickte dann hoch zum ersten Sonnenlicht, das wie Sirup durch die letzten Nachtwolken sickerte. Ein Zittern überkam mich. Ich sprach das Wort aus, entließ es leise in das kupferfarbene Feuer des werdenden Tages.
    Das Wort hieß
Magie.
    Dann kniete ich nieder und betete.
     
    †
     
    «Fühlt Ihr Euch wohl, Dr. John? Ihr wirkt …»
    Cowdray stand am Fuße der Treppe. Er trug seine Schürze aus Sackleinen, sein Kinn war mit grauem Flaum überzogen, und er betrachtete mich besorgt.
    «Mir geht es gut, danke der Nachfrage», sagte ich.
    Es kam mir vor, als hörte ich meine Stimme zum ersten Mal. Sie klang hell und unreif wie die Stimme eines Knaben.
    «Letzte Nacht hat wohl niemand von uns viel Schlaf gefunden», bemerkte Cowdray. «Das war bestimmt der schlimmste Sturm des gesamten Winters.»
    Nein,
wollte ich ihm widersprechen.
Es war der großartigste aller Stürme!
Dennoch wusste ich natürlich, dass nicht alles zum Besten stand. Als ich die Treppe hinunterging, schien es mir, als würde mein Körper noch immer aus Licht bestehen, ich wusste jedoch, dass ich mich der Magie des Tranks nicht einfach willenlos hingeben durfte, weil sie sich sonst leicht zu einem Wahn steigern konnte.
    «Habt Ihr Nel Borrow gesehen?»
    Dieser Name war mir nun heilig, eine Anrufung der Engel.
    «Nein.» Cowdray tat unbeteiligt. «Seit gestern nicht mehr.»
    Natürlich
hatte
er sie gesehen. Aber seine Vorsicht verdiente Anerkennung, und so ging ich nicht weiter darauf ein. Bestimmt hatte sie sich davongestohlen, als es noch dunkel war. Genau das hatte sie getan: sich davongestohlen.
    Aber ich würde sie wiederfinden. Ich brauchte sie jetzt mehr als je zuvor. Und sie zu finden war die nobelste aller Heldentaten, denn sie war Circe, Medea, Morgan le Fay und … Ich konnte sie lebhaft vor mir sehen, wie sie zwischen den beiden Bäumen stand, die auf dem Weg zur Quelle wuchsen, und zu mir hinuntersah.
    Kann man denn nur aus Büchern lernen?
    Da Cowdray auf einmal misstrauisch wirkte, fragte ich mich, ob ihr wilder Duft mich vielleicht noch immer wie ein unsichtbarer Nebel einhüllte.
    «… Strafe Gottes», sagte er.
    «Verzeihung?»
    «Einen solchen Sturm erlebt man zu dieser Jahreszeit eher selten. Die Leute sagen, es war der Zorn Gottes über den Morast aus Sünde und Heidentum in dieser Stadt.»
    «Wer sagt das?»
    Er lächelte nur grimmig und antwortete nicht darauf.
    «Master Roberts hat nach Euch gefragt.»
    «Ist er auf?»
    «Er ist schon seit einer Stunde auf», antwortete Cowdray. «Er bittet, dass Ihr zu ihm in die Abtei kommt. Er ist in dem Anbau hinter der Küche des Abtes, dort wo … der Tote aufgebahrt ist. Die Leiche Eures Mannes.»
    Selbst am schönsten Sonnentag gibt es immer eine dunkle Wolke.
    «Sofort?»
    «Ich bereite in der Zwischenzeit das Frühstück zu. Geduld scheint nicht zu Master Roberts’ Tugenden zu gehören.»
     
    †
     
    Die Hütte schien früher den flämischen Webern gehört zu haben, die während Edwards Regentschaft auf dem Gelände der Abtei angesiedelt worden waren. Die Fensterläden waren vernagelt, das Dach mit Stroh gedeckt. Guter Dinge ging ich durch die frische, kalte Morgenluft auf sie zu. Doch bereits als ich die offene Tür erreichte, war es mit meiner Euphorie vorbei. Ein übler, durchdringender Gestank verfaulenden Fleisches drang aus der Hütte.
    «Wo zur
Hölle
hast du gesteckt?»
    Dudley erschien im Türrahmen. Er trug sein schlichtes Beamtengewand und wirkte so ausgemergelt und finster, wie ich ihn noch nie erlebt habe.
    «Ich habe lange geschlafen», antwortete ich. «Der Sturm …»
    «Hat uns alle wach gehalten. Außer diesem armen Kerl hier.»
    In seinen Augen brannte ein Feuer, das nicht vom Fieber rührte, sondern sich von einem Zorn nährte. Er trat aus der Hütte und wischte sich mit dem Handrücken über Mund und Bart. Auf seiner Stirn standen immer noch einige Schweißperlen.
    «Geh hinein. Geh da rein und sieh es dir an.»
    «Aber Robbie, wozu soll das gut sein? Ich habe schon alles gesehen, was ich ertragen kann.»
    «Nein!» Sein Gesicht wirkte streng und entschlossen, die Lippen schmal. Es war, als sei er aus einem langen Schlaf erwacht. Nun hatte die Wirklichkeit ihn wieder gepackt, und er brannte vor Entschlossenheit. «Schau ihn dir noch einmal an. Ich bitte dich wirklich inständig darum. Sieh genau hin. Du kennst dich doch mit solchen Sachen aus, hast Anatomie studiert.»
    «Ich habe Bücher über Anatomie