Die Gebeine von Zora
hinter Herg her. Doukh und Girej folgten zu Fuß. Auch sie führten einen kleinen Aya mit sich, auf den sie ihre persönliche Habe und ein zusammengefaltetes Zelt gepackt hatten. Ihre Anheuerung hatte eines zeit- und nervenraubenden Herumgefeilsches bedurft, da sie auf einem Gefahrenzuschlag wegen der Bande von Gesetzlosen bestanden hatten, die die Gegend unsicher machten. Als Herg sie fragte, ob sie ›die Stelle am Flussufer kannten, an der der Steuereinnehmer umgebracht wurde‹, versicherten sie ihm, dass ihnen die Stelle bekannt sei; die anderen sollten › ruhig schon vorausreiten‹.
»Wir werden noch vor Sonnenuntergang zu euch stoßen«, versicherte Girej.
Die rote Sonne Roqir stand schon tief am westlichen Horizont, den grünlichen krishnanischen Himmel mit goldenem und scharlachrotem Glanz überziehend, als die Männer die von Marot ausgewählte Gegend erreichten. Der Paläontologe sagte:
»Fergus, lass mich die Stelle für unser Lager aussuchen! Ich habe darin Erfahrung.« Er fragte den Shaihan-Hirten auf Mikardandou: »Meister Herg, wie hoch steigt der Zora bei Hochwasser?«
»Lasst mich überlegen«, sagte der Krishnaner. »Im dritten Jahre des Dasht Kavir steigt er bis zum Rand jenes Kammes.« Er zeigte mit ausgestrecktem Arm auf eine Anhöhe. »Das ist das höchste, wovon ich gehört habe.«
Marot ritt mit seinem Aya zu dem bezeichneten Punkt und verfolgte mit zusammengekniffenen Augen eine imaginäre Konturlinie. »Wartet hier!« rief er und spornte seinen Aya zum Trab an. Er ritt ein Stück am Ufer entlang, schwenkte mehrmals nach links und rechts ab, blieb hin und wieder stehen und ließ den Blick prüfend über das Gelände schweifen. Eine Viertelstunde später, die Sonne berührte schon den Horizont, kam er zurück.
»Ich habe ein geeignetes Plätzchen gefunden. Kommt mit!«
Reith fand, dass der Paläontologe den Platz gut gewählt hatte: Er lag in ausreichendem Sicherheitsabstand über der Hochwassermarke, war aber trotzdem vom Fluss aus rasch zu Fuß erreichbar. Der Boden war fast kahl: ein rötlicher Lehm, entstanden aus verwittertem Brandschiefer, übersät mit Sandsteinkieseln und vereinzelten Felsbrocken. Das Terrain stieg auf beiden Seiten des Flusses sanft an, um sich vom oberen Rand des Böschungskammes in weich geschwungenen Linien bis zum Horizont zu dehnen. Abseits vom Fluss war die Vegetation dichter. Buntfarbiges Dornengestrüpp und stachlige Kräuter bedeckten das Land, unterbrochen von kahlen Flächen roter Erde.
Von Doukh oder Girej war nichts zu sehen. Reith rief laut ihre Namen, aber es kam keine Antwort. Als Roqir am Horizont unterging, stimmte die krishnanische Nacht ihre endlose Symphonie aus Zirpen, Quieken und Summen an.
»Sieht so aus, als müssten wir unser Zeltselbst aufschlagen«, sagte Reith.
»Kann ich euch zur Hand gehen?« fragte Herg.
»Danke«, sagte Reith.
Als das Zelt stand, sagte der Krishnaner: »Ich muss jetzt nach Kubyab aufbrechen. Mein Herr wird euch in Bälde einen Mann vorbeischicken, der nachschaut, wie es euch ergeht.«
»Gute Nacht«, sagte Reith, dann, an Marot gewandt: »Diese beiden so genannten Arbeiter sind noch nicht hier.«
Marot zuckte die Achseln. »Vielleicht haben sie sich verirrt oder ihre Meinung geändert, oder ihnen ist was passiert.«
»Vielleicht sollte ich ein Stück zurückgehen und nach ihnen Ausschau halten.«
»Ich bitte dich, lass das bleiben! Wenn du jetzt hier in der Dunkelheit in einer unbekannten Umgebung herumtappst, verirrst du dich höchstens auch noch.«
Reith ließ sich seine Idee einer nächtlichen Suchaktion nicht allzu ungern ausreden, auch wenn sein überentwickeltes Verantwortungsbewusstsein heftig an ihm nagte. Er und Marot bereiteten sich eine schlichte Mahlzeit.
Als Reith am nächsten Morgen den Kopf aus dem Zelt steckte, sah er am anderen Ufer des Flusses eine Familie schlankbeiniger krishnanischer Pflanzenfresser stehen und trinken. Als er ganz heraustrat, blickten die Tiere auf, schnaubten und jagten mit langen Sätzen die Uferböschung hinauf.
Später ritt Reith auf dem rotbraunen Aya den Pfad zurück, auf dem sie gekommen waren, um nach Spuren der beiden vermissten Arbeiter zu suchen. Er bewegte sich langsam und behutsam vorwärts, hielt in Abständen an, um sich die Konturen der Landschaft einzuprägen und einen Blick auf Marots Karte zu werfen. In dieser weglosen, wellenförmigen Landschaft, die kaum markante Orientierungspunkte aufwies, konnte man sich nur allzu leicht verirren.
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