Die Gefährtin des Medicus
um sie aus. Wenn sie durch die Straßen ging, trug sie es unter einem Tuch gebunden wie die verheirateten Frauen, um kein Aufsehen zu erregen, doch hier an Stephanus' Fischteich hatte sie das Tuch gelöst. Sie schloss die Augen vor dem grellen Himmelslicht.
»Und dann?«, fragte Roselina. »Was ist dann mit Bénézet geschehen?«
»Mhm?«
»Was mit ihm geschehen ist! Nachdem er die Brücke gebaut hat!«
»Ach, ich weiß nicht«, murmelte Alaïs schläfrig. »Er wurde ein Heiliger.«
»Wie wird man ein Heiliger.«
»Nun, der Papst erklärt, dass man es ist. So wie er es bei Thomas von Aquin erklärt hat.«
»Und warum?«
»Mhm?« Alaïs nickte fast ein, Roselina jedoch zerrte ungeduldig an ihrem Arm. »Und warum?«
Mit einem Ruck fuhr Alaïs hoch, schlug die Augen wieder auf. »Nun, lass mich doch, ich …«
Sie brach ab. Beim kleinen Fischerhaus von Stephanus hatte sie eine Regung wahrgenommen, doch diese stammte nicht von dem Alten, der die Karpfen des Papstes züchtete, sondern voneinem Mann, dessen Statur ihr irgendwie bekannt vorkam. Er ging gebückt und mit hängenden Schultern, hatte einen schmalen Kopf und eine hagere Statur, und als er auf das Haus zuschritt, drehte er sich mehrmals um, offenbar ängstlich, dass man ihn ertappen könnte.
»Wie wird man ein Heiliger?«, fragte Roselina.
»Psst!«, machte Alaïs.
Woher kannte sie jenen Mann, diesen schleppenden Schritt? War sie ihm in einer der Nächte begegnet oder in Giacintos Haus? War er einer von Aureis Studenten?
Während sie ihn beobachtete, öffnete sich die Tür von Stephanus' Haus. Doch es war nicht dessen Gestalt, die sichtbar wurde, sondern die eines Mannes, den sie nie an dieser Stätte erwartet hätte: Gaufridus Isnardi, einer der Leibärzte des Papstes, der vor wenigen Wochen Ludovicus' Anklage noch so genüsslich aufgenommen hatte und dessen Genugtuung Gasbert de Laval freilich alsbald gedrosselt hatte.
»Wie wird man ein Heiliger?«, drängte Roselina wieder.
Alaïs sprang auf. »Hör zu … du musst hier warten, ja? Ich bin gleich wieder zurück, dann erzähle ich dir alles, was du willst, aber jetzt habe ich zu tun … allein … bleib hier …«
Sie prüfte nicht, ob das Kind ihre Befehle verstanden hatte und sich danach richten würde. Ohne einen Blick über die Schultern zu werfen, lief sie auf Stephanus' Hütte zu. Die letzten Schritte schlich sie möglichst lautlos. Die Wände des Hauses waren aus dunklem Holz errichtet, schief und knirschend. Nebst Tür und Kamin brachte eine kleine Luke Luft und Licht. Im Winter mochte sie zum Schutz vor dem schneidenden Wind zugehämmert sein, nun war nur eine dünne Tierhaut darübergespannt, durch die Alaïs nun spähte. Das Bild, das sich ihr bot, war gelblich und die Gestalten verzerrt, und doch erkannte sie jetzt den hageren, gebückten Mann, der sich hier mit Gaufridus traf.
Es war der Priester Laurent Bonredon – jener Mann, den sie vor fast zwei Jahren halbtot in der Gosse aufgelesen hatten, nachdem er sich den Strick hatte geben wollen. Seine schwarze, trotzder Hitze hochgeschlossene Kleidung bedeckte den Hals. Es ließ sich nicht erkennen, ob Narben von damaliger Untat zeugten.
Alaïs vergeudete keine Aufmerksamkeit daran, denn als sie hörte, was Gaufridus zu sagen hatte, ging ihr mit einem Mal auf, warum ihr nicht nur das Gesicht des Mannes bekannt war, sondern ihr auch seine Haltung, seine Statur vertraut erschienen waren.
»Die Franziskanerkutte hat dir gut gestanden, das muss man dir lassen.«
Laurent schnaubte unwillig.
»Doch!«, bestand Gaufridus. »Und dass man dich nicht wiedererkannt hat – weder dieser Autard noch das Mädchen, das häufig bei ihm ist –, das war eine tüchtige Leistung.«
Alaïs konnte es nicht fassen. Jener Franziskaner, der nach dem Verzehr von Eselfleisch bei ihr Hilfe gesucht hatte, war Laurent Bonredon gewesen?
Alaïs’ Verwirrung und Empörung wuchsen und steigerten sich noch mehr, als es nun an der Tür klopfte. Sie duckte sich, hielt vor Schreck den Atem an. Wer immer sich dem Haus genähert hatte, mochte gesehen haben, wie sie vor einer der Luken stand. Doch als der Mann Gaufridus begrüßte, hörte sie am Klang seiner Stimme, dass er sich nicht ertappt fühlte, sondern satt und zufrieden. Jene Stimme war ihr auch vertraut. Aufgebracht hatte sie zuletzt geklungen, empört darüber, dass einer wie Aurel nicht zur Rechenschaft gezogen wurde. Jene Empörung freilich war mittlerweile geschwunden.
Ludovicus. Der Medicus aus
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