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Die Gefährtin des Medicus

Die Gefährtin des Medicus

Titel: Die Gefährtin des Medicus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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Sommersprossen und Mückenstiche störten das glatte Weiß.
    Roselina war heute nicht nur an den glupschäugigen Karpfen interessiert, sondern ebenso an der mächtigen Brücke Avignons.
    »Stimmt es, dass Gott selbst die Brücke errichtet hat?«, fragte sie.
    Alaïs wedelte mit der Hand, um Fliegen zu vertreiben, die die mittägliche Stille zersummten.
    Jene Frage stellten nicht nur Kinder, sondern viele Menschen, die den Prachtbau zum ersten Mal sahen.
    »Du weißt doch, wie die Brücke entstanden ist«, gab sie knapp zurück.
    »Erzähl es mir noch einmal!«
    Alaïs seufzte. »Muss das sein?«
    »Bitte!«, flehte das Kind.«
    Alaïs seufzte wieder. Jene Geschichte hatte nicht zum Schatz derer gehört, die ihr der Vater in Kindertagen über das Land, in dem sie lebte, zu berichten wusste. Wer freilich in Avignon lebte und täglich die Brücke bestaunten konnte, bekam sie wieder und wieder zu hören.
    »Es gab einen jungen Schäfer, der lebte in Alvilard und er hieß Bénézet.«
    Jedes einzelne Wort klang lustlos. »Ich dachte, er wäre ein Soldat gewesen?«, fragte Roselina dazwischen, offenbar, um sie zu mehr Gründlichkeit anzustacheln.
    »Ach, ich weiß es nicht genau. Irgendwann später hat er eine riesige Truppe angeführt, dann muss er also auch ein Soldat gewesen sein. Er war also Schäfer und Soldat.«
    »Gegen wen kämpfte er?«
    »Das weiß ich auch nicht. Herrgott, nun unterbrich mich nicht andauernd.«
    Roselina presste ihre Lippen zusammen, zum Zeichen, dass sie sich besser beherrschen wollte. Alaïs stützte sich auf den Ellenbogen. Das Gras kitzelte auf ihrer nackten Haut, indessen Roselina aufrecht stehen blieb. Nicht zum ersten Mal bemitleidete Alaïs sie für das steife Leben, das Marguerite dem Kind aufnötigte. »Nun gut, Bénézet führte seine Truppen, und einesNachts im Traum, vielleicht war es aber auch tagsüber, wobei, dann kann es kein Traum gewesen sein, weil man tagsüber nicht schläft …« Sie schlief des Nachmittags schon, ein Soldat wohl aber nicht. »Auf jeden Fall erschien ihm Christus selbst in diesem Traum, und Christus befahl, er müsse eine Brücke über die Rhône bauen.«
    »Aber er wusste nicht, wo die Rhône fließt!«, warf Roselina hastig ein. Keinen Satz sollte Alaïs auslassen, kein Wort, sonst war die Geschichte nicht recht erzählt.
    »So war’s. Christus aber sagte, er solle sich nicht beunruhigen, er würde ihm schon den rechten Weg weisen. So verließ er seine Heimat, zog wandernd umher – und eines Tages begegnete er einem Engel, der ihn an das Ufer der Rhône brachte. Bevor er ihn dort verließ, gab der Engel ihm eine letzte Anweisung.«
    »Wie schauen Engel aus?«
    Auch davon hatte Alaïs keine Ahnung, aber das wollte sie nicht zugeben. »Soll ich dir von Engeln erzählen oder von der Brücke?«, fragte sie gereizt.
    Roselina seufzte. »Von der Brücke.«
    »Also gut. Der Engel gab Bénézet also eine Anweisung. Er müsse zum Bischof gehen und dort verkündigen: >Jesus Christus schickt mich, um eine Brücke zu bauen.< Das tat Bénézet auch. Allerdings hatte er es so eilig, dass er nicht einmal die Sonntagsmesse abwarten wollte, sondern den Bischof mitten im Gottesdienst störte.«
    »Und der wurde wütend?«, fragte Roselina begeistert.
    »Sehr sogar! Vor allem, als Bénézet sein sonderbares Anliegen bekundete. Der Bischof hielt ihn für einen Verrückten und wollte ihn festnehmen lassen, doch als Bénézet immer aufs Neue wiederholte, was ihm der Engel zu sagen aufgetragen hatte – nun, da meinte er verdrießlich«, Alaïs äffte die Stimme des Bischofs nach, >»Nehmt diesen Stein hier und tragt ihn hinaus in den Hof!<«
    Roselina lachte.
    »Es war ein großer Stein. Er lag bereit, weil die Kirche noch nicht fertig gebaut war. Zehn Männer bedurfte es, ihn zu tragen.Doch Bénézet vertraute auf Gott. Er bückte sich, hob das Ungetüm auf, als wär’s nur ein Kieselstein, und spazierte damit herum. Der Bischof erbleichte, fiel auf die Knie und fing zu beten an. Alle taten das, die Zeugen dieses Ereignisses wurden. Bénézet hingegen stellte den Stein nicht wieder ab. Er holte aus und warf ihn ins Wasser der Rhône, denn jener Stein sollte der Grundstein der Brücke werden.«
    »Also hat doch Gott die Brücke gebaut und nicht der Mensch«, stellte Roselina fest. »Denn schließlich hatte Bénézet die Kräfte von Gott.«
    Alaïs zuckte die Schultern. Sie lehnte sich zurück, ließ ihren Kopf ins Gras fallen. Ihr Haar breitete sich in einem großen Fächer

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