Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Gefährtin des Medicus

Die Gefährtin des Medicus

Titel: Die Gefährtin des Medicus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
Vom Netzwerk:
rüstete. Doch der Widder drehte ihr dreist sein Hinterteil zu, indessen sie sich keuchend am Gatter festhielt, und marschierte hoheitsvoll von dannen.
    Langsam ließ der Schmerz nach, ihr Leib entkrampfte sich. Sie schmeckte Blut im Mund, gewahrte, dass sie sich auf die Lippen gebissen hatte.
    Jetzt erst drangen wieder Laute an sie heran, und sie hörte, dass niemand mehr lachte. Der Händler stieß ein drohendes »Na warte!« aus, das gegen den Widder gerichtet war. Emy fragte besorgt, ob sie verletzt sei.
    Und dann erklang da noch eine andere Stimme. Eine, die sie hier, am Viehmarkt von Marseille, nicht erwartet hätte, die sich so verzerrt anhörte, als stammte sie aus einem finsteren Traum.
    »Brauchst du Hilfe?«, fragte Aurel Autard.
     
    Emy fuhr herum. Raymondas Juchzen erstarb. Dass der Widder die Mutter in den Bauch gestoßen hatte, hatte sie noch lustig gefunden, nicht aber den hageren Fremden, der plötzlich neben ihnen aufgetaucht war. Alaïs nahm ihren Vater an seiner Seite wahr. Aurel hätte sie wohl niemals gefunden, wäre Ray ihm nicht am Hafen begegnet und hätte ihn zu ihnen geführt.
    Alaïs stand wie erstarrt. Sie fühlte nicht, wie ein Tropfen Blut aus ihrem Mundwinkel perlte und über das Kinn rann.
    »Bist du verletzt?«, fragte Emy wieder, als hätte er den Bruder nicht gesehen, obgleich seine Augen doch starr auf ihn gerichtet waren.
    »Soll ich dich untersuchen?«, fragte Aurel, irgendwie heiter, als wäre es vom Schicksal trefflich geplant worden, dass er in jener Rolle in ihr Leben zurücktrat, in der er sich am liebsten sah.
    Alaïs schüttelte rasch den Kopf und wischte sich das Blut ab. Sie wankte, als sie zum Tor ging, nicht gewiss, ob es vom Stoß des Widders kam oder von der Überraschung, Aurel zu sehen.
    Sie öffnete eben das Tor des Gatters, als Emy seinen Bruder endlich ansprach: »Was machst du hier?«
    Aurel entging die Knappheit der Worte, das Rüde in der Stimme. »Wenn ihr wüsstet! Wenn ihr wüsstet, was ich alles erlebt habe! Und was nun erst bevorsteht!«
    Er warf seinen Kopf zurück. Sein braunes Haar war länger geworden, reichte nun weit über die Schultern. Es war schief geschnitten wie eh und je, aber es glänzte und manche Strähnen schienen fast blond. Sein Gesicht war ausgezehrter als in der Avignoner Zeit, aber braun gebrannt.
    »Ich bin mit Pio Navale hier«, fuhr er fort. »Ihr könnt euch doch an Pio Navales Namen erinnern? Es ist Giacintos Bruder, von dem er einst erzählt hat und zu dem er uns seinerzeit hatte bringen wollen. Nun, damals ist es ganz anders gekommen. Vor einiger Zeit aber bin ich ihm endlich in Florenz begegnet.«
    »Ich dachte … Ich dachte, du wolltest nach Bologna gehen …«, sagte Alaïs leise. Die Zunge schmerzte beim Reden. Sie schmeckte immer noch Blut.
    »Bologna! Ach was!«, stieß Aurel aus und wedelte mit den Händen durch die Luft, als genügte diese knappe Bewegung, um den einstigen Plan beiseite zu fegen. »Ich dachte, dass dort die größten Professoren der Medizin lehrten! Mondino de Liuzzi, Niccolô Betruccio oder Alberto da Bologna. Habe auch gehört, dass sie regelmäßig Leichensektionen durchführen! Aber die Wahrheit ist, dass ich dort nicht viel Neues gelernt habe. Zumindest nichts, womit ich nicht schon selbst experimentiert hätte. Das ignorante Pack wollte sich gar nicht auf mich einlassen, wollte nicht von meinen Erfahrungen zehren. Wie einen Studenten haben sie mich behandelt.«
    Wieder wedelte er mit den Händen.
    Alaïs fiel es nicht schwer, seine Worte zu deuten. Also hatte er es geschafft, sich an einer der wichtigsten medizinischen Fakultäten Europas unbeliebt zu machen mit seinem Hochmut, seiner Gedankenlosigkeit, seinem Widerstandsgeist.
    Sie verfluchte ihn innerlich dafür, und dann – sie konnte nicht anders – musste sie plötzlich lächeln. Weil er der Alte war, dem von der Verzagtheit in der Grotte nichts mehr anzusehen war. Weil die Jahre ihn älter, aber nicht weiser hatten werden lassen, was den Trugschluss möglich machte, es wäre nicht so viel Zeit seit ihrer letzten Begegnung vergangen, öde, traurige, nachdenkliche, einsame, enge Zeit, sondern nur ein Augenblick, zu kurz, um Spuren auf ihrer vernarbten Seele zu hinterlassen. In ihrem Leib pochte der Schmerz, verstärkt von ihrem Puls, der zu rasen begann.
    »Und dann?«, fragte sie, und es klang nicht mehr ablehnend, sondern begierig. »Was hast du dann gemacht?«
    Noch ehe er antworten konnte, trat Emy dazwischen. Er hatte Raymonda von

Weitere Kostenlose Bücher