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Die Gefährtin des Medicus

Die Gefährtin des Medicus

Titel: Die Gefährtin des Medicus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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ihr weit hinter dem öden Loch Aurel zu. So vieles mochte er verheißen, was sie verachtet hatte und noch immer hasste: seine Blindheit und Kälte, über sämtliche ihrer Willensregungen hinwegzublicken, die Besessenheit von Fleischigem, Blutigem, Eitrigem. Doch all das mochte zwar schwer wiegen, die Waagschale aber nicht zu seinen Ungunsten nach unten zerren. Er war viel zu ungebärdig und umtriebig, viel zu halsstarrig und wankelmütig, um die Lasten, die man ihm auferlegte, nicht sogleich wieder abzustoßen – mit einem barschen Wort, einem verächtlichen Schulterzucken, einem raschen Schritt. Konnte sie das auch? Musste sie nur einmal mit dem Kopf schütteln, um alle lästigen Pflichten los zu sein? War es nur Trug, dass sie sich mit einem Mal so leicht und ungebunden fühlte, oder war sie es tatsächlich, weil sie, sie allein, es sich zugestand?
    Sie setzte sich auf, und es gab keine Hand, die sie zurückzerrte. Sie erhob sich und konnte über den weichen Boden tappen, ohne Geräusche zu machen. Sie musste sich nicht ankleiden, weil sie ihre Tunika gar nicht erst abgelegt hatte, aber selbst wenn das notwendig gewesen wäre, so hätte kein Widerstand ihre Bewegungen aufgehalten. Sie nahm den Lederbeutel, in dem sich Reste ihres Proviants befanden. Auf diesen wollte sie nicht verzichten, doch immerhin suchte sie die wenigen Münzen zusammen, die sie besaß, und legte sie auf den Boden.
    Niemand ertappte sie. Niemand stellte sich ihr in den Weg. Sie tat nicht, was sie entschieden hatte, sondern sie entschied sich, indem sie es einfach tat, indem sie der ersten Regung folgte, die ihr in den Sinn kam. Und es war so einfach zu gehen, sich nicht umzudrehen, sich nicht zu fragen, ob Raymonda morgen weinen würden, wenn sie erwachte und die Mutter nicht vorfinden würde, nicht zu überlegen, ob Emy ihren Fortgang bedauern würde.
    Sie beugte sich über das Boot. Raymonda lag zusammengeringelt wie eine Katze. Ihr dunkles Haar bedeckte ihr Gesicht, ein dünnes Laken ihren Körper. Kein Stückchen ihrer Haut war sichtbar, über das man noch hätte streicheln, es liebkosen können. Emy hatte seinen Arm um sie gelegt, sie schlafend ganz dicht an seine Brust herangezogen, die sich regelmäßig hob und senkte. Entspannt waren seine Züge, bekundeten weder finstere Träume noch aufgewühlte Gedanken, die ihn im Schlaf heimsuchten und noch einmal verlockend anboten, was er im wachen Zustand so voreilig zurückgewiesen hatte.
    Alaïs hob die Hand, wollte über seinen Kopf streichen, dann über den der Kleinen, doch ehe sie sie berührte, zuckte sie zurück. Es schien ihr nicht zuzustehen. Die beiden gehörten einander, doch nicht mehr ihr. Als sie ihre Hand zurücknahm, zog ein merkwürdiges Kribbeln über ihre Haut, von Schmerz und Unbehagen kündend und ein ganz klein wenig von Kälte, die sich in ihr ausbreitete, die eigene und die der Nacht. Sie konnte ihr entkommen, wenn sie sich zu den beiden legte, ihre Nase in RaymondasHaar senkte und Emys Hand ertastete, um sich daran festzuhalten. Nicht mehr erbärmlich frösteln würde sie wie jetzt, aber vielleicht – und das ging ihr durch den Kopf, als sie nun von dem Boot zurücktrat und das Kribbeln verebbte – ersticken.
    Sie ging ins Freie, blickte hoch zum nackten, kahlen Mond. Sein Schein war zu matt, um sie bloßzustellen, um der Schuld und der Kälte mehr Gewicht zu geben. Mühelos schritt sie weiter, fühlte sich geborgen von Blicken, die sie vorwurfsvoll treffen und sie in den Kreis ihrer kleinen Familie zurückbefehlen könnten.
    Rasch lief sie in Richtung des Hafens, und erst dort traf sie auf ein Hindernis.
    »Was treibst du hier, Alaïs?«, fragte ihr Vater, der in den stillen Stunden der Nacht auszog, um Freiheit zu suchen, doch der immer – und das unterschied ihn von ihr – am Morgen wieder zurückkehren würde.
     
    Sie rang um eine Ausrede, stammelte etwas von Kopfschmerzen, die sie wachgehalten hätten, von der frischen Nachtluft, die sie suchte, doch dann verstummte sie. Rays Blick war auf ihren Lederbeutel gefallen, und als er ihn wieder hob, ihre Augen suchte, da wusste sie, dass sie ihm nichts vormachen konnte. Es fiel ihr schwer, in seinem Gesicht zu lesen; es war zu dunkel. Nur, dass er nicht lächelte wie sonst, dass kein Spott in seinen Augen aufblitzte, das sah sie.
    Plötzlich wusste sie, dass es keinen Menschen gab, dem sie sich leichter erklären konnte. Und keinen anderen, bei dem es ihr gerade darum so schwer fiel. Vorwürfe hätte sie mit Trotz

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