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Die Gefährtin des Medicus

Die Gefährtin des Medicus

Titel: Die Gefährtin des Medicus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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und Reusen aufbewahrt waren. Faulig stank es nach Algen und Schlamm, aber die Geräusche von den Straßen waren gedämpft, und das liederliche Diebespack, vor dem man sich in Marseille zu schützen hatte, würde nicht auf die Idee kommen, an dieser Stätte Reisende auszurauben.
    Alaïs sah, dass Emy Raymonda in das Boot gebettet hatte. Er selbst hingegen war starr daneben stehen geblieben – entweder, weil er den Schlaf der Kleinen bewachen wollte oder aber, weil er es aussichtslos fand, eigenen zu finden.
    Alaïs blickte sich im finsteren Schuppen um. Von ihrem Vater war – wie schon am Nachmittag, da sie den Widder kaufen wollten – nichts zu sehen. Früher war er in den dämmrigen Morgenstunden oft im Freien herumgestreunt, doch seit dem Tod der Mutter schien er auch die dunkle Nacht nicht zum Schlafen zu nutzen, sondern zum Alleinsein.
    Dass sie ihn nicht antraf, bedauerte sie. Mit ihm hätte sie darüber reden können. Mit ihm hätte sie ergründen können, ob Aureis Vorschlag einer vorwitzigen Laune entsprungen war oder ihm die Gesellschaft von ihr und seinem Bruder tatsächlich fehlte.
    Doch auch wenn Ray nicht hier war – darüber schweigen konnte sie nicht.
    Emy hatte sich noch nicht zu ihr umgewandt, da sprudelte es schon aus ihr hervor. Sie gab Aureis Worte nicht einfach nur wieder, sondern schmückte sie aus, und als sie erst einmal begonnen hatte, ihre Fantasie zu nutzen, verstieg sie sich immer weiter ins Reich der Lüge. Dass Aurel sich nach ihnen sehnte, bekundete sie. Dass er ohne sie mit dem Leben nicht zurechtkäme. Dass es ihm schwerfiele, ein guter
Cyrurgicus
zu sein, wenn keine kundige Hand ihm helfe.
    Mit jedem Satz versteckte sie ihren eigenen Trieb, dem faden Leben zu entkommen, tiefer unter dem Trachten, Aurel einen Gefallen zu tun.
    Doch als sie schließlich endigte und die Worte in der Stille hängen blieben, da gewahrte sie, wie sehnsüchtig sie einer Antwort harrte, die nicht nur seine Willfährigkeit gegenüber dem Bruder bewies, sondern sein Wissen um ihre heimlichen Wünsche. Unmöglich auch, dass es nur die ihren waren. Suchte er nicht selbst seit langem nach einer Gelegenheit, Saint – Marthe zu entkommen und wieder das Leben von früher aufzunehmen? Wenn Aurel sie aufforderte, ihn zu begleiten – so entband er ihn doch von der Pflicht, die er ihm einst aufgetragen hatte!
    Langsam drehte sich Emy zu ihr um. Sie versuchte, ihn gleichmütig anzusehen, die Angelegenheit weiterhin zur Sache seines Bruders zu machen, nicht zu der eigenen. Doch wenn sie zuvor Aurel auch ihre Hand entzogen hatte, immer nackter, immer unverstellter wurde ihre Gier, noch mehr davon zu spüren: von dieser Verheißung, dass ihr Leben nicht vorbei war.
    Emy schüttelte langsam den Kopf. »Er glaubt doch nicht ernsthaft«, stieß er aus, »er glaubt doch nicht ernsthaft, dass ich das Kind einer solchen Gefahr aussetze!«
    Die Züge entglitten ihr erst, als er sich schon wieder abwandte und nun selbst ins Boot stieg, um sich neben die schlafende Raymonda zu legen. Sie fühlte, wie Tränen in ihr aufstiegen und hochspülten, was ihre nüchternen Worte noch verbergen hatten können: Unverständnis und Hoffnungslosigkeit und schließlich Wut. Auf ihn losgehen hätte sie wollen, auf ihn mit Fäusten einschlagen. Wie konnte er es wagen, ihre Träume mit einem schlichten Satz abzutun? Wie konnte er es wagen, sich jenem Bruder zu widersetzen, dem er vor einiger Zeit noch mit hängendem Kopf nachgeschlichen war wie ein Hund? Wie konnte er dessen Weisung folgen, sie zu heiraten, sein Kind groß zu ziehen – nun aber nicht dessen Einladung?
    Sie ballte die Hände zu Fäusten, doch mehr Regung erlaubte sie sich nicht.
    Vielleicht hätte sie es gekonnt, wenn Emy dergleichen erwartet hätte, wenn er sich gegen Widerspruch gerüstet hätte. Doch so selbstverständlich, wie er sich schlafen legte, vermeinte er wohl, sie sei nichts weiter als Aureis Sprachrohr gewesen, jedoch nicht selbst bestochen von dessen wahnwitziger Idee.
    Alaïs bestieg das Boot nicht, sondern ließ sich davor niedersinken, lehnte sich daran und starrte auf die dunkle, feuchte Erde. Die Tränen versiegten, die Wut und ihr Unwille auch. Nur die Hoffnungslosigkeit blieb.
    Die Zukunft war plötzlich ein nackter, farbloser Schlund, an dessen Rändern sie entlanglief. Wenn sie gewagt hätte, sich vorzuneigen und in dessen Tiefe zu lugen, so hätte sie vielleicht etwas erkennen können, was Geschmack und Lärm und Lebensfrische verhieß. Doch nun winkte

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