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Die Gefährtin des Medicus

Die Gefährtin des Medicus

Titel: Die Gefährtin des Medicus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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trug stets ein Lächeln im Gesicht, sodass Alaïs zunächst meinte, er gehörte zu den besonders gutgelaunten Menschen. Doch dann erzählte er, weiterhin lächelnd, von seiner Herkunft. Er war ein Geldwechsler aus Arezzo, der mit seiner Familie ein friedliches Leben geführt hatte, bis zu dem Tag, als den Menschen in seiner Stadt einfiel, dass er kein hilfreicher Geschäftsmann, sondern ein Halsabschneider und Wucherer sei, den man zu meucheln hätte. Auf solch eine Idee, so Simeon, kämen die Menschen im besten Fall nur jedes halbe Jahrhundert. Wenn es misslich lief, leider schon alle zehn Jahre. In diesem Fall waren sie durch ein paar Predigten von Bettelmönchen aufgehetzt worden, sodass es nicht nur bei Schmähungen geblieben war, sondern eine Horde Jugendlicher durch die Stadt gezogen war, um alle Juden entweder zu erschlagen oder aber in ihr Haus zu sperren und dieses anzuzünden. Simeons Familie war Letzteres widerfahren. Bis auf ihn wurde sie ausgerottet, denn ihm war es gelungen, aufs Dach zu fliehen und von dort hinabzuspringen, die Todesschreie seiner Kinder, seiner Frau und seiner Eltern in den Ohren.
    Als er geendigt hatte, lächelte er immer noch, und da ging Alaïs auf, dass er lächelte, um nicht zu weinen, zu schreien oder den Verstand zu verlieren. Sie wollte das Leid nicht ergründen, das hinter dem dunklen Blick lag, nicht jetzt, da sie doch wähnte, das Dunkle und Schwermütige des eigenen Lebens hinter sich gelassen zu haben. Aber sie mochte ihn, weil er sich bis auf das falsche Lächeln nicht verstellte, sondern stets die Wahrheit sagte.Er spottete über Bianca, die so sehr versuchte, die Reise zu verdrängen, indem sie möglichst viel Heimat in die Fremde mitschleppte. Und er spottete über Navale, der ihn einst bei sich aufgenommen hatte, weil er sich von Simeon im Hebräischen unterrichten ließ, und der – wie Simeon meinte, nunmehr so viele Sprachen beherrschte, eine einzige aber nicht. »Und zwar die wichtigste«, fügte er hinzu.
    »Und welche wäre das?«, fragte Alaïs, die viel Zeit bei Bianca verbrachte. Navales Frau hatte es so gewünscht. An sonderlicher Sympathie mochte es nicht liegen, vielmehr daran, dass man Alaïs – so sagte sie es am Tag, da der Anker gelichtet wurde – die bäuerliche Herkunft nicht ansähe. Alaïs lag es auf der Zunge zu sagen, ihr Vater sei ein Fischer, kein Bauer. Doch für eine Frau wie Bianca machte das wohl keinen Unterschied.
    »Also, was ist das für eine Sprache, die Pio Navale nicht kennt?«, fragte sie Simeon, der nicht nur Hebräisch beherrschte, sondern auch das Spiel mit der Flöte, womit er wiederum nicht seinen Herrn, sondern Bianca erfreute – schlichtweg, weil er damit das Meeresrauschen und das Gekreisch der Möwen übertönte. »Zwei Arten zu sprechen gibt’s«, erklärte Simeon. »Man spricht mit Worten, und kennt man möglichst viele, fällt manches leichter, zum Beispiel der Handel. Doch der Mensch spricht auch mit Blicken und Gesten, mit dem Ausdruck seiner Augen und dem Runzeln seiner Stirn. Die Wörter lügen oft, die Mienen nicht. Navale beherrscht viele Wörter, seine Miene aber nicht. Und noch weniger durchschaut er, was den Menschen in Wahrheit treibt.«
    Alaïs zuckte hilflos die Schultern und wusste damit nichts anzufangen. »Und was treibt den Menschen?«, fragte sie schließlich.
    »Ein Mann wie Pio Navale will Grenzen überschreiten und glaubt, wenn er es tut, werden ihm alle anderen folgen. Der gewöhnliche Mann aber liebt es, Grenzen zu setzen, zwischen sich und dem nächsten, möglichst auf dessen Kosten.«
    Seine Stimme klang milde, und sein Mund lächelte wie stets.Nur sein Blick war trüb, und als er auf den weiten Horizont glitt, ging Alaïs auf, dass er wie Navale gern reiste – nicht, um in die Fremde zu gelangen, sondern möglichst weit weg von dem Vertrauten.
    Nie war sie selbst so weit aufs offene Meer gefahren. Als sie ein Kind gewesen war, hatte ihr Vater sie manchmal zum Fischfang mitgenommen – was selten genug vorkam, weil es die Mutter für viel zu gefährlich befand. Nicht zuletzt aufgrund der Standpauke, die jedes Mal von Caterina zu erwarten stand, hatte er darauf geachtet, das Ufer im Blick zu behalten. Mochte sich also in der einen Richtung das unendlich weite Meer erstreckt haben, in der anderen war doch stets der Küstenstreifen zu sehen gewesen.
    Nun war es erstmals anders. Alaïs ging vom breiten Heck zum schnabelförmigen Bug, vom Vorderschiff Richtung Schiffsbauch, drehte Runden im

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