Die Gefährtin des Medicus
Alaïs, dass es eine höchst sonderbare Schar war, die hier in Marseille auf den Aufbruch wartete. Kein Einziger schien mit festen Schritten auf der Welt zu wandeln. Vielmehr schien zwischen jedem von ihnen und dieser Welt ein dickes Kissen aus Sehnsucht und Fernweh, Ausweglosigkeit und Bitternis, Erstarrung und Verklärung zu liegen – für den einen weich, den anderen hart, aber auf jeden Fall solcherart, dass man den Boden nicht spürte. Aber dem Befremden, das in ihr hochstieg, wollte sie nicht nachgeben. Sie hob ihren Weinkelch, trank hastige Schlucke und labte sich nicht nur an dem süßlich schmeckenden Trunk, sondern auch an der Macht der Hoffnung, die in der Luft lag – der Hoffnung auf ein ganz anderes, ganz neues, niemals erprobtes Leben.
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XXVI. Kapitel
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Später standen sie im Freien, die Schiffe des Hafens ragten wie ein dunkler Wald von ihnen auf. Die Betriebsamkeit des Tages hatte nachgelassen, doch dann und wann erklang noch Lärm: bellende Köter, fluchende Betrunkene, kichernde Huren. In den letzten Stunden war es Alaïs zunehmend heiß geworden. Nun kühlten ihre geröteten Wangen ab. Das Kribbeln, das in ihrer Leibesmitte hockte, ließ jedoch nicht nach, sondern verstärkte sich vielmehr schmerzhaft, da sie den Moment des Abschieds gekommen sah.
Aurel gehörte ja nicht länger zu ihnen, er gehörte zu jenem Pio Navale, der die weiteste Reise antreten wollte, von der Alaïs jemals gehört hatte.
»Ihr seid doch morgen noch in Marseille!«, rief er eben aus, indessen Emy ungeduldig von einem Fuß auf den anderen trat und Alaïs nicht wusste, wie sie damit fertig werden sollte, Aurel hier einfach stehen zu lassen – ihn und diese Verheißung von Fremde und Freiheit. »Ihr müsst unbedingt das Schiff von Navale sehen! Es ist eines der größten und prachtvollsten, die es je gegeben hat. Wir werden sehr zeitig lossegeln, lange vor Sonnenaufgang, aber wenn ihr früh zum Hafen kommt, dann …«
»Seid wann verstehst du etwas von Schiffen?«, meinte Emy und klang nicht mehr nörgelnd, sondern ungemein müde. Ray – monda hob schlaftrunken ihr Köpfchen, aber ließ es bald wieder auf seine Brust sinken.
»Ihr solltet es euch ansehen, ehe wir in See …«
Emy wartete nicht darauf, dass er den Satz zu Ende brachte.»Das Kind muss schlafen«, erklärte er barsch, dann stapfte er davon. »Und morgen früh kehren wir zurück nach Saint – Marthe. Wir haben in Marseille alles erledigt, was es für uns zu tun gab.«
Weder trachtete er danach, sich vom Bruder zu verabschieden, noch sich zu vergewissern, dass Alaïs ihm folgte. Sie blieb zögerlich stehen und hatte das Gefühl, Aurel erklären zu müssen, warum Emy sich derart abweisend benahm. Allerdings verstand sie es selbst nicht und wollte es eigentlich auch nicht tiefer ergründen. Diesen Abend nicht einfach zu Ende gehen lassen wollte sie, ihn vielmehr festhalten – ihn und die Verheißung, dass es eine Welt jenseits der ihren gab.
»Ist es wirklich das, was du willst?«, fragte sie plötzlich, obwohl ihr eigentlich andere Worte auf der Zunge lagen: Es wäre das, was ich will.
Aurel hatte Emy nachgestarrt, fuhr nun herum. Immer noch kam der nächtliche Hafen nicht zur Ruhe. Das Heulen eines Betrunkenen mischte sich mit dem Schnattern von Gänsen, die am nächsten Tag auf dem Markt angepriesen werden würden. Das Gekeife einer Alten, die vergeblich Schlaf suchte, mit dem Greinen eines zahnenden Kindes.
»Was meinst du?«, fragte er.
»Du wolltest Tote aufschneiden und Krankheiten ergründen. Und jetzt treibt es dich auf eine Insel, wo kein Mensch lebt?«
Leicht zu durchschauen war ihr Trachten, seine Begeisterung zu beflecken – schlichtweg, weil sie sie nicht teilen durfte. Doch wie stets erkannte er nicht, was sie in Wahrheit zu der Frage antrieb.
»Was kümmert mich die Insel?«, fragte er zurück. »Aber verstehst du nicht … auf diesem Schiff und wo immer wir landen wird es so sein, als gäbe es inmitten der großen Welt eine eigene, kleine, völlig abgeschottete Welt. Pio Navale … Er schert sich nicht um Gesetze und Gebote. Er wird mich machen lassen, was immer ich will.«
Etwa wieder Tote aufschneiden?, ging es Alaïs durch den Kopf.Doch sie sagte es nicht laut; viel zu erstickend wäre ihre Stimme wohl geraten, zusammengepresst von Neid und Missgunst. Machen, was man will …
Plötzlich trat Aurel vor, erfasste sie an den Händen und drückte sie. Alaïs zuckte zusammen, nicht wegen dieser Berührung, sondern ob der
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