Die Gefährtin des Medicus
Eisenrohrs, das in die Wunde einzuführen ist. Erst dann kann man den Splitter herausziehen – die Gefahr ist gebannt, Gewebe zu zerreißen. Noch dringlicher, als den Splitter herauszuziehen, ist es freilich, die Blutung zu stillen. Ich wähle dafür eine Methode, die schon Lanfranco …«
Irgendwann unterbrach er seine Ausführungen, die der Knabe ebenso wenig verstand wie seine Mutter, die – wie Alaïs erst jetzt bemerkte – mit überkreuzten Beinen in der Ecke der Kate kauerte.
»Kannst du mir eine Münze holen?«, fragte er plötzlich.
»Eine Münze?«, rief sie entgeistert. »Wem willst du denn in dieser Einöde was abkaufen?«
»Ich brauche sie doch nicht, um etwas zu bezahlen. In Bologna habe ich erfahren, dass es ein probates Mittel ist, um eine stark blutende Wunde zu verschließen.«
»Darf’s ein
Solidus
sein? Oder lieber ein Denar?«, fragte Alaïs bissig.
Seine Erfüllungsgehilfin wollte sie nicht sein, Dennoch erhob sie sich, um die Gelegenheit zu nutzen, dem Haus und seinen Vorträgen zu entfliehen.
Missmutig trat sie nach draußen. Es war ihr nicht gelungen, ihre Ungeduld auf ihn abzuwälzen.
Die Luft flirrte, als sie nun um die Mittagszeit im Freien stand. Der Sand schien in weißen Flammen zu stehen. Sie schützte ihre augenblicklich tränenden Augen vor der Wucht der Sonne.
Eher zögerlich blickte sie sich um, hatte größere Lust, sich einen schattigen Platz zu suchen, als nach einer Münze zu fragen. Sie war sich nicht einmal sicher, ob arme Mallorquiner dergleichen überhaupt besäßen.
Doch dann trat sie doch zu einem der Fischer. Er arbeitete nicht, sondern stand starr und blickte aufs Meer. Alaïs überlegte, wie sie sich verständlich machen konnte, und versuchte es mit den paar Brocken der katalanischen Sprache, die sie gelernt hatte. »Denar?«, fragte sie immer wieder.
»Solidus?«
Ihr ging auf, dass sie nicht einmal die Währung der Insel kannte.
Der Mann achtete nicht auf sie. Immer noch blickte er auf den Horizont, immer noch stand er wie starr, und dann fing er plötzlich laut zu schreien an.
Für einen kurzen Augenblick – ein Augenblick, der sie vor namenloser Angst bewahrte –, dachte sie, er errege sich ihretwegen, weil sie von ihm Geld forderte. Ein Missverständnis, nichts weiter.
Doch dann fuhr sie herum, blickte in die gleiche Richtung wie er und gewahrte, dass sein Geschrei – es lockte die Menschen aus den Häusern, einige kamen auch vom Strand ins Dorf gerannt – nichts mit ihr zu tun hatte, sondern mit dem Schiff, das am Horizont sichtbar geworden waren.
Nun war er nicht mehr der Einzige, der schrie. Alle riefen sie durcheinander, kreischend und heulend und verzweifelt.
Und aus den vielen fremd klingenden Silben schälten sich solche heraus, die sie zu verstehen glaubte.
Es war ein Schiff der maurischen Piraten.
Aus dem einen Schiff wurden zwei, dann drei, schließlich vier – kleine zwar nur, aber doch groß genug, um genügend Heiden zu beherbergen: Heiden aus dem fernen Granada, die regelmäßig Mallorca heimsuchten, Männer ermordeten, Frauen und Kinder entführten und sie in die Sklaverei verschleppten. Ihre Boote mit flachem Kiel brauchten kein tiefes Wasser, sie ließen sich dicht an die Küste heranführen. Die Ciutat wagten sie nicht zu überfallen, ebenso wenig die übrigen befestigten Städte, aber in den kleinen Fischer – und Bauerndörfern an der Süd – und Westküste, die für den Regenten nicht sonderlich schützenswert waren, fielen sie regelmäßig ein, lediglich am Freitag nicht, denn jener Tag war ihnen so heilig wie den Christen der Sonntag und den Juden der Sabbat.
Simeon hatte ihr das erzählt, als ihr Schiff auf Mallorca zugesegelt war. Sie hatte seine Worte gehört, aber sie nicht überdacht.Dass sie die Ciutat nicht angreifen würden, war alles, was damals gezählt hatte, um ihre Furcht zu zerstreuen – denn zu diesem Zeitpunkt hatte sie nicht daran gedacht, die Hauptstadt jemals zu verlassen. Und dann, als sie es taten, war einzig wichtig gewesen, aus Frère Lazaires Bannkreis zu gelangen. Erst jetzt kamen ihr Simeons Worte wieder in den Sinn.
Sie stand als Einzige still. Noch war keine Furcht in ihr. Lediglich Ungläubigkeit war da, das Gefühl, betrogen zu werden. Unmöglich war, dass die Schicksalsmächte es wagten, sie in einen solch dunklen Traum zu hetzen. Wenn sie sich nur recht bemühte, wenn sie nur lang genug leugnete, was geschah – vielleicht könnte sie wieder daraus erwachen.
Sie erwachte,
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