Die Gefährtin des Medicus
bis zum Fuß der Anhöhe vorgedrungen.
Alaïs schrie entsetzt auf und schlug sich sogleich mit der Hand vor den Mund, um den Laut zu ersticken. Aurel stieß ihren Kopf beiseite, starrte nun selbst nach draußen. Ihre Stirn schlug schmerzhaft an der Mauer an.
»Was ist?«, presste sie hervor. »Was passiert?«
»Pfeile … Sie zielen mit ihren Pfeilen … oh, mein Gott.«
Diesmal war der zischende Laut kein Trug, sondern kam wirklich von den Waffen der Angreifer. Gleich darauf ertönte ein Schmerzensschrei, nicht einfach nur gequält, sondern dem Gebrüll eines getroffenen Tieres gleich.
Aurel trat vom Guckloch zurück, und sie konnte sich mit eigenen Augen überzeugen, dass es den Flüchtenden erwischt hatte. Zwar sah sie den Pfeil nicht, der irgendwo in seinem Körper stecken musste, jedoch, wie er sich aufbäumend an die Kehle fuhr und dort eine Fontäne Blut hochspritzte.
Den Tod hatte sie dem Mann nicht gewünscht, und doch war sie ungemein erleichtert, dass er nun nicht näher kommen konnte, die Aufmerksamkeit der Mauren nicht auf ihr Versteck ziehen würde. Vielleicht würden sie nun davon ablassen, vielleicht …
Doch dann bemerkte sie, dass die größte Gefahr in diesem Augenblick nicht von den Angreifern ausging. Unruhig schritt Aurel in dem schmalen Raum auf und ab.
»Er ist verwundet, ich muss …«
Fassungslos starrte sie ihn an, erkannte, dass seine hektischen Schritte nicht von Angst rührten, eher von dem übermächtigen Verlangen, nach dem Mann zu sehen.
»Bist du wahnsinnig?«, kreischte sie.
Der andere Mallorquiner schien von all dem nichts zu bemerken. Er saß zusammengekrümmt und betete mit geschlossenen Augen zur Jungfrau Maria.
Aurel blickte wieder durchs Guckloch. »Sie sind weg … Ich muss …«
»Nein!«, schrie sie. »Das darfst du nicht! Dieser Mann ist so gut wie tot!«
»Ich muss«, sagte Aurel wieder, »ich muss.«
Sie versuchte ihn aufzuhalten, verstellte ihm erst den Weg, packte ihn dann am Arm, aber er war kräftiger und schüttelte sie ohne Mühe von sich ab. Dann war er in die gleißende Sonne getreten und lief zu dem verwundeten Mann. Das Blut schoss immer noch aus dessen Hals, wenngleich nicht mehr so hoch und kräftig.
Alaïs sah, wie Aurel den Verletzten erreichte, und inmitten ihrer Panik, inmitten der Wut, dass er sie so rücksichtslos in Gefahr brachte, dämmerte ihr vor allem eins: Aurel war ihr gänzlich fremd. Bis zu diesem Augenblick hätte sie geschworen, dass er sich niemals für irgendjemanden aufopfern würde, dass er andere vergaß, wenn es um seine Vorteile ging, so, wie er schon mehrmals sie vergessen hatte.
Nun, vielleicht galt das auch jetzt. Gut möglich, dass er nicht dem Trieb folgte, einem anderen zu helfen, sondern dem, sich in jedem Augenblick seines Lebens als meisterhafter
Cyrurgicus
zu erweisen, der Blut und Tod nicht scheute. Doch sie hatte nicht erwartet, dass diese Gier, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen, so groß war, dass er sich selbst diesem Tode bedenkenlos auslieferte.
Er kniete sich zu dem Mann, presste die Hand auf den Blutfluss. Aläis sah, wie einzelne Tropfen auf sein Gesicht spritzten, doch das kümmerte ihn nicht. Schon griff er nach seinem Ledersack auf dem Rücken. Doch er hatte keine Zeit mehr, etwas herauszuziehen. Von allen Seiten kamen plötzlich die dunklen Männer, umrundeten nicht nur Aurel, sondern auch das Türmchen.
Alaïs schrie, und später wusste sie nicht mehr, ob sie wegen dieser Schreie entdeckt wurde.
Sie schrie, als Aurel herumfuhr, mit den Händen fuchtelte und sich einer der Mauren davon bedroht fühlte. Sie schrie, als jener einen Pfeil auf ihn schoss, Aurel am Bein getroffen wurde undzusammensackte. Und sie schrie, als fremde Hände sie packten, sie wie ein Sack Mehl über die Schultern geworfen und Richtung Meer geschleppt wurde.
Gleiches widerfuhr auch dem Mallorquiner, der immer noch die Augen geschlossen hielt und immer noch inständig zur Jungfrau Maria betete.
Jeder Schritt des Mannes, der sie schleppte, war wie ein Schlag in die Magengrube. Dass sie zappelte, machte es nicht besser, und irgendwann ergab sie sich den Schmerzen, der Hoffnungslosigkeit und dem fremden Geruch, der von seiner Haut und Kleidung ausging. Sie wurde wieder taub für die Geräusche in ihrer Umgebung, konnte hinterher nicht sagen, ob sie in einem fort geschrien hatte oder verstummt war. Als sie den Strand erreichten, fühlte sich ihre Kehle wie ausgedörrt an, als hätte sie Unmengen von jenem Sand
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