Die Gefährtin des Medicus
mehr aus dem Meer.
Alaïs starrte auf die Szenerie, fragte sich, warum sie nichts hörte bis auf die zischenden Pfeile: kein Geschrei, kein Kampfgebrüll, kein Gemeckere der Ziegen, kein Plärren der Kinder. Dann erkannte sie, dass jener zischende Laut nicht von den Pfeilen kam, sondern vom eigenen Blut, das hinter den Ohren rauschte,sie taub machte für alles, auch für Aureis Rufen. Schließlich zerrte er sie am Arm mit sich, und weiter ging es den schmalen Pfad hinauf.
Als sie das Türmchen zum ersten Mal gesehen hatte, hatte sie das Gefühl gehabt, es wäre greifbar nahe. Nun wurde der Weg immer länger, schien sich in endlose Biegungen zu verzweigen. Die Sonne brannte auf ihrem schweißnassen Gesicht wie Feuer. Sie blieb an einer Wurzel hängen, greisengrau, der der salzige Grund längst alles Fruchtbare herausgepresst hatte. Hastig riss sie sich los, trat mit ihrem nackten Fuß prompt auf einen Dorn, der die Hornhaut durchspießte und sich schmerzlich tief in ihr Fleisch bohrte. Der Schmerz füllte sie aus, besetzte sie ganz und gar; da war keine Furcht mehr, kein Grauen, kein Gedanke daran, was geschehen würde, fielen sie in die Hände der Mauren, an Verschleppung und Versklavung, nur dieser Schmerz.
Halb hinkend, halb rennend hatten sie schließlich die Anhöhe erreicht, hinter der sich hügeliges, vertrocknetes Land erstreckte. Das Türmchen kam ihr nun kleiner vor, die Mauern, die von unten besehen Schutz versprochen hatten, waren nur in Richtung Meer unbeschadet, auf der Seite des Landesinneren aber zerfallen und von Gebüsch überwuchert. Trotzdem stürzte sie mit letzter Kraft dorthin, ließ den Körper in den schmalen Schatten fallen, den die Steine warfen, zog ihre Beine dicht an sich heran und senkte ihren Kopf zwischen die Knie. Es war nicht möglich, sich noch kleiner zu machen, und als sie kurz zur Seite blinzelte, sah sie, dass Aurel dieselbe Lage gewählt hatte.
So hockten sie, langsam verging das Rauschen in ihrem Kopf, und die anderen Laute kehrten zurück: das Schreien, das Klagen, das Brüllen, das Zischen der Pfeile.
Nicht näher, dachte Alaïs, und ihr ganzer Körper zitterte, obwohl es glutheiß war, hoffentlich kommt es nicht näher …
Der Schmerz ob des eingetretenen Doms verging. Alles, was nun zählte, war auf die Geräusche zu hören. Wurde es schlimmer? Wurde es schwächer? Näherte sich jemand dem Turm?
Indessen Alaïs sich weiterhin klein machte, hatte Aurel sich schließlich erhoben, spähte durch das kleine Guckloch, das sich in der glatten, runden Mauer des Turms befand.
»Sie kommen …«, stieß er schließlich tonlos aus.
Alaïs, die sich sicher war, er könnte nur die Mauren meinen, sprang hoch. Noch tiefer trieb sich der Dorn ins Fleisch und presste ihr Tränen in die Augen. Das Bild, das sich ihr bot, als sie Aurel beiseite drängte, um selbst durch das Guckloch zu starren, verschwamm. Sie sah keine Menschen, nur schwarze Striche, die sich seltsam bewegten. Das Getrampel von Füßen schälte sich aus dem Lärm.
Sie zwinkerte, die Schmerzenstränen versiegten. Zwei Männer kamen den Maultierpfad hoch, jedoch keine dunklen Mauren, sondern Mallorquiner aus dem Dorf, die sich wohl das gleiche Versteck erkoren hatten wie sie.
Alaïs hoffte inständig, sie würden es nicht erreichen. Hätte sie eine Möglichkeit gesehen, das Türmchen zu versperren, sie hätte es getan und sich mit ihrer ganzen Körperkraft gegen die Tür gestemmt, auf dass niemand eindringen konnte. Einer der Männer hatte die Anhöhe erreicht, stürzte auf das Türmchen zu und stieß einen Aufschrei aus, als er sich in Sicherheit brachte. Alaïs presste ihr Gesicht enger an das Guckloch – als gehörte ihr zumindest dieses voll und ganz und könnte ihr von niemandem streitig gemacht werden.
Der zweite Mann war nicht so schnell wie der erste. Die Luft schien ihm auszugehen, mehrmals blieb er stehen, dann wiederum fiel er und musste sich am Gras und im Gebüsch festhalten, um sich wieder aufzurichten. Alaïs verstand nicht, warum er nicht mehr Kräfte beschwören konnte, sich diese Schwächen erlaubte, und zugleich hoffte sie, die Müdigkeit würde ihn übermannen, er würde den Hügel hinabrollen und niemand käme auf die Idee, dass jemand zum Türmchen geflohen sei.
Dann plötzlich beschleunigte der Mann seinen Schritt, schien innerhalb weniger Augenblicke zu erstarken. Alsbald sah sie warum: Immer mehr Mauren hatte das Ufer erreicht, fanden imDorf nichts mehr zu tun und waren nun ebenfalls
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