Die Gefährtin des Medicus
sie würde auch dann noch lustvoll pochen, wenn Sanchos Name ebenso verblasst war wie seine Züge. Aber lebendig machte dieses Gefühl nur im Rückblick. Wenn sie nach vorn schaute, hatte sie nicht die leiseste Ahnung, wer sie morgen sein würde.
Alaïs hatte keine Ahnung, wie sie die letzte Wegstrecke ihrer abenteuerlichen Reise schaffen konnten – jene von Barcelonanach Marseille. War es für einen Mann, dem ein Bein fehlte, und eine Frau, die die Sprache der Katalanen kaum verstand, nicht ein hoffnungsloses Unterfangen? Die Richtung zu erahnen war leicht, sie mussten an der Küste bleiben und immerfort nach Osten wandern. Doch welche Gefahren mochten auf diesem Wege lauern, vor allem Räuberbanden? Und selbst wenn diese ausblieben, wie sollten sie ohne ausreichenden Proviant die Strecke überstehen?
Sie begann den Augenblick, da sie Barcelona erreichen würden, zu fürchten, doch an dem Tag, an dem am Horizont ein dünner Streifen Land sichtbar wurde, immer breiter wuchs und schließlich eine Stadt daraus erstand, die von einer mächtigen Kathedrale gekrönt war, trug ausgerechnet Sancho ihnen eine Lösung an.
»Ich kenne einen Händler. Fährt häufig die Küste zwischen Barcelona und Arles entlang. Kann euch mitnehmen.«
Er sprach abgehackt, schien keinen ganzen Satz zustande zu bringen. Rührte die schwere Zunge von der Unlust, mit ihr zu reden? Oder hatte er womöglich getrunken?
Alaïs wollte es nicht an seinem Atem riechen und hielt das Gesicht von ihm weggewandt.
»Danke«, murmelte sie, »hab Dank.«
»Dank nicht mir«, knurrte er. »Akil hat mich gebeten, für euch Sorge zu tragen, also tue ich’s.«
Er spuckte die Worte förmlich aus. Sie war sich sicher, dass ein sprühender Speichelregen sie getroffen hätte, hätte sie ihn angesehen. Weiterhin hielt sie den Kopf gesenkt, wollte ihn mit von Lust verzerrtem Gesicht in Erinnerung behalten, nicht mit verletztem, verbittertem. Vor allem wollte sie nicht, dass er in ihrem Gesicht Spuren von Zweifel lesen könnte – Zweifel, den er bei ihrem letzten Gespräch gesät hatte, als er Aurel nicht für den rechten Mann für sie befunden hatte. Sie bemühte sich, sie nicht an sich heranzulassen, doch seit ihrer Abreise hatte Aurel kein vertrauliches Wort mehr zu ihr gesprochen, hatte nicht wieder bekräftigt, dass er nur mit ihrer Hilfe weitermachen konnte.
Allerdings – was gab es schon zu sagen, solange diese mühsame, heiße, auslaugende Reise nicht überstanden war?
Wie Aurel blieb nun auch sie gegenüber Sancho stumm, setzte den Worten des Dankes nichts hinzu, kein Bedauern, keinen Abschiedsgruß. Sie sah ihn nicht wieder. Nicht er, sondern einer seiner Männer trug dafür Sorge, dass sie direkt von dem einen aufs andere Schiff gelangten, ohne den Boden der Grafschaft überhaupt betreten zu müssen. Dort bekamen sie eine Kammer im Schiffsbauch, klein und drückend, schwül und nach fauligen Algen stinkend.
»Hoffentlich dauert die Reise nicht lang«, stieß Alaïs aus und wähnte sich schon jetzt zu erschöpft, um nur einen Tag zu überstehen.
Aurel ließ sich niederfallen. Er hatte es verweigert, sich tragen zu lassen, lediglich um einen Stock gebeten, auf den er sich stützen konnte. Das Humpeln war ihm schwergefallen. Er keuchte nicht minder erschöpft als sie – und vielleicht, so dachte Alaïs, waren Schmerzen und Kraftlosigkeit der Grund, warum er auch weiterhin stumm blieb.
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XXXV. Kapitel
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In Booten brachte man sie an die Küste, um sie wortlos in der Nähe von Arles abzusetzen, einen Auftrag erfüllend, aber kein Jota mehr Sorge bekundend. Sollten die Reisenden nun selbst sehen, wie sie weiterkamen, mochte die eine auch nur eine Frau sein, der andere ein Einbeiniger.
Alaïs blickte sich um. Flach und sumpfig war das Land, die Wiesen standen nicht grün wie an dem Tag, da sie die Provence verlassen hatte, sondern verdorrt. Erst jetzt stellte sie fest, dass während der abenteuerlichen Reise der Frühling längst vergangen war und der Sommer bereits dem Herbst entgegeneilte. Doch auch wenn es viele Jahre anstatt nur einiger Monate gewesen wären – sie hätte sich nicht mehr darüber gewundert. Sie fühlte sich, als wäre sie Ewigkeiten unterwegs gewesen und entsprechend gealtert.
Sie wandte sich an Aurel. »Und nun?«, fragte sie.
Nie hatte er in den letzten Tagen Schmerzen bekundet, doch sein Gesicht wirkte grau, gefurcht – und ratlos. Eine Weile hockten sie da und starrten sich an wie Kinder, die auf den Befehl der
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