Die Gefährtin des Medicus
Erwachsenen warteten. Sie hatten vieles gemeinsam durchgestanden, aber noch nie waren sie auf sich allein gestellt gewesen.
Emy, ging es Alaïs durch den Kopf. Was würde Emy jetzt tun?
In den letzten Wochen hatte sie kaum an ihn gedacht, jetzt keimte eine Sehnsucht, die sie so heftig nicht erwartet hatte. Die Sehnsucht nach einem Plan, nach Ordnung, nach jemandem, der unauffällig zu essen und zu trinken besorgte.
»Holz«, meinte Aurel schließlich. »Such mir irgendwo einen kräftigen Ast, damit ich mich darauf stützen kann.«
Sie folgte seinem Wunsch gerne, erleichtert, dass es etwas zu tun gab, das für einige Momente vollends ihren Geist beanspruchte. Zwischen den Feldern wuchsen Obstbäume. Die äpfel, die sie trugen, waren klein und grün, und als sie heftig an einem Ast zerrte, so rieselte ihr nicht nur Rinde ins Gesicht, sondern plumpsten ihr die harten, unreifen Früchte auf den Kopf. Sie stieß einen Schmerzensruf aus, der ungehört verhallte. Aurel saß noch dort, wo die Männer ihn abgesetzt hatten, und sie unterdrückte mit aller Macht den Grimm, der ob seiner Tatenlosigkeit in ihr hochstieg.
Er kann doch nichts dafür, suchte sie sich einzureden, wie soll er denn laufen mit dem einen Bein …
Und doch grummelte etwas in ihrem Magen, das sich von den nüchternen Gedanken nicht ruhig stimmen ließ, nicht nur Wut, weil sie auf sich allein gestellt war, sondern neuer Zweifel. Wie sollte es weitergehen mit ihnen?
Immerhin erkannte er, dass sie unmöglich einen Ast vom Baum brechen konnte – bestenfalls nur einen morschen, und der würde unter seinem Gewicht zusammenbrechen.
»Versuch es damit!«, rief er ihr zu.
Er hatte aus seinem Lederbeutel die
Serra
gezogen, jene Säge, bei deren Anblick sie erschauderte. Das letzte Mal hatte sie sie in Händen gehalten, als sie den Knochen seines Beines durchsägt hatte. Fast scheute sie sich, sie zu berühren, dann aber sah sie ein, dass es keinen anderen Weg gab.
Sie prüfte mehrere äste und versuchte, nicht auf das Knirschen zu hören, als sie sich für einen entschieden hatte und zu sägen begann. Schweißnass war sie, als sie ihr Werk vollbracht hatte. Sie warf Aurel den armdicken Ast mit sämtlichen Blättern und Zweigen daran zu, ohne sich gewiss zu sein, dass er die richtige Größe für eine Krücke hatte.
Dabei zuschauen, wie er sie fertigte, wollte sie nicht.
Erschöpft ließ sie sich auf die rote Erde sinken, blieb eineWeile sitzen und legte dann auch ihren Kopf nieder. Sie starrte in den Himmel, der weder von Land und Meer eingerahmt noch von Wölkchen beschmutzt, sondern strahlend weit und blau und nackt war wie das Leben, das vor ihr lag. Nach einer Weile blendete die Sonne so stark, dass sie die Augen schließen musste, und die Dunkelheit schien noch leerer, noch unbeschriebener.
Als die Haut ihres Gesichts sich ob der Hitze zu schälen begann, richtete sie sich wieder auf. Ihr schwindelte, der Mund war trocken. Sie blickte sich um, doch dort, wo Aurel eben noch gesessen hatte, war der Platz leer.
»Aurel!«, rief sie. »Aurel!«
Irgendwie hatte er es geschafft, bis unter den Schatten des Baumes zu kriechen. Als sie sich ihm näherte, bemerkte er sie nicht. Viel zu sehr war er damit beschäftigt, den Ast zu bearbeiten. Anstatt ihn als Krücke zu verwenden, hatte er ihn in der Mitte entzwei geschnitten. Eben befreite er eines der Stücke von der kratzenden Rinde und versuchte, die beiden Enden möglichst glatt zu schleifen. Sämtliches chirurgisches Gerät hatte er um sich ausgebreitet, als gälte es, das Stück Holz ebenso akribisch und behutsam zu behandeln wie einen menschlichen Körper.
»Was zum Teufel tust du da?«, entfuhr es ihr.
Er achtete nicht auf sie. Starr war sein Blick auf das Werk seiner Hände gerichtet – doch nicht leer, nicht ausgelaugt wie in den letzten Wochen, sondern irgendwie lodernd. Als das Holz ihn glatt genug deuchte, kramte er wieder in seinem Beutel. Er schien das Gesuchte nicht zu finden, weshalb er kurzerhand ein Messer nahm und den Lederbeutel in kleine Streifen zerschnitt.
»Was tust du?«, fragte sie wieder.
Hatten Durst und Hitze ihm den Verstand geraubt? Beides war ihr selbst unerträglich. Suchend blickte sie sich um. In jener sumpfigen Gegend musste es doch irgendwo ein Bächlein geben! Aurel leckte sich zwar auch über die trockenen Lippen, aber seine Aufmerksamkeit galt ganz und gar dem Stück Holz – so wie einst, wenn er im Leib einer Leiche oder eines Kranken gewühlt hatte und nichts
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