Die Gefährtin des Medicus
lassen.
Ihr Leib war zu ausgezehrt, als dass ihr Geist ihm etwas anderes hätte entgegensetzen können als die überlegung, wie sie den einen Fuß vor den anderen bringen sollte. Nichts spürte sie von der Schande, dass sie hierher zurückkehrte, nichts von dem Scheitern.
Als sie das Dorf erreichte, war es Abend. Am Himmel ver – knäulten sich bleiche Wolken mit den roten Fäden, die die untergehende Sonne abspulte. Die meisten Fensterläden waren geschlossen. Wer auch immer hindurchlugte und sie erblickte, sah sich davon nicht veranlasst, nach draußen zu eilen. Leer schien jedes Gässchen, wie ausgestorben – und sie war dankbar, dass sie niemandem eine Antwort schuldig war. Zumindest so lange nicht, bis sie die Kate erreichte, in der sie mit Emy gelebt hatte.
Bevor sie das Haus betrat, sah sie den Trog, der wie immer davorstand. Trüb stand das Wasser darin, vielleicht hatten Tiere daraus getrunken – der wilde Widder, den sie am Schafsmarkt von Marseille nicht hatte bezwingen können –, vielleicht war schmutzige Wäsche darin gewaschen worden. Sie scherte sich nicht darum, senkte ihren Kopf tief ins Wasser, genoss die ersten Schlucke, gleichwohl sie erdig schmeckten, und die erfrischende Kühle, die den heißen Kopf besänftigte.
Als sie sich wieder aufrichtete, surrten Mücken um ihr Haupt. Sie wedelte die Schar fort, wischte sich das nasse Gesicht trocken. Dann betrat sie die Kate.
Emy saß an dem länglichen Tisch. Ein Stück Stoff lag vor ihm. Es sah aus, als habe er genäht. Doch in dem Augenblick, da sie den Raum betrat, hatte er die Arbeit bereits aufgegeben. Weil er keine Lust mehr hatte? Oder weil er sie hatte kommen sehen?
Zumindest wirkte er nicht erstaunt. Kein Wort der Begrüßung, kein Ausruf der überraschung trat über seine Lippen. Er blieb starr sitzen, als würde sie nicht von einer monatelangen Reise wiederkehren, sondern lediglich von einem kurzen Ausflug.
Dass er nichts sagte, nicht auf sie reagierte, ließ jedes Wort in ihr verstummen. Sie hatte keine Kraft zu reden, nur diesen unerträglichen, quälenden Hunger. Mehr taumelte sie zum Tisch, als dass sie aufrecht ging. Dann ließ sie sich niederfallen und wusste nicht, wie sie die Kraft aufbringen sollte, um Essen zu flehen.
Doch es war keine Bitte nötig. Emy ging zur Herdstelle. Ein Kupferkessel hing über dem Feuer. Er schöpfte etwas daraus, brachte es ihr, desgleichen ein Stück Brot, das er aus einem Korb nahm. Sie wusste nicht, was sie aß, so schnell schlang sie es herunter. Erst hinterher bemerkte sie, dass sie sich den Mund verbrannt hatte.
Nun hatte sie wieder die Kraft zu reden und zu denken, doch Emy schwieg immer noch. Nachdem er ihr das Essen gereicht hatte, hatte er sich wieder an seinen Platz gesetzt und begonnen, das Stück Leinen zu flicken – es schien ein Kleid zu sein, wahrscheinlich das von Raymonda.
Alaïs schob die leere Schüssel fort. Am liebsten wäre sie geflohen, doch ihre Füße schienen ihr zu wund dazu. So musste sie sitzen bleiben, und weil sie die Stille nicht ertrug, sagte sie leise seinen Namen.
»Emy.«
Nichts weiter.
Es war kaum lauter als ein Flüstern, doch er hatte sie gut gehört. Die Nadel entglitt seiner Hand. Er fuhr vor, packte sie schmerzhaft an den Schultern, rüttelte sie. Derart gewalttätig hatte sie ihn nie erlebt, und sie fuhr zusammen, nicht nur erschrocken über die unerwartete Reaktion, sondern weil sie ihm keinen Widerstand entgegenbringen konnte.
Irgendwann ließ seine Hand sie wieder los.
»Nenn mich nie wieder Emy!«, sagte er ausdruckslos. »Aurel hat mich so genannt.«
Tränen stiegen ihr hoch, von denen sie nicht wusste, woher sie rührten. Sie schluckte sie, hörte dann das Geräusch tapsender Schritte hinter sich. Langsam drehte sie sich um und sah Ray – monda dort stehen, mit nackten Beinen und dünnem Kleidchen. Ihre schwarzen Haare waren gewachsen, die Wangenknochen etwas stärker aus dem einstmals rundlichen Kleinkindgesicht hervorgetreten. Sie musterte Alaïs wie eine Fremde.
»Was ist geschehen?«, fragte sie. Ihre Worte waren deutlich. Ihre Tochter hatte in der Zwischenzeit zu reden gelernt.
Emy stand auf, beugte sich zu ihr herab, hob sie hoch. Er streichelte ihr über das Haar, und Raymonda legte ihren Kopf in die Beuge seines Halses.
Alaïs musterte den Mann, der ihr Gatte war und der Vater ihrer Tochter, und er war ihr fremd und vertraut zugleich.
Emy, der sie immer gesehen und immer für sie gesorgt hatte.
Emy, der nie von ihr
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