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Die Gefährtin des Medicus

Die Gefährtin des Medicus

Titel: Die Gefährtin des Medicus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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verlangt hatte, ihm ein krosses Zicklein zu braten.
    »Schlaf weiter«, sagte er mit gleichgültiger Stimme. »Es ist nur deine Mutter, die wieder nach Hause zurückgekehrt ist. Kein Grund aufzuwachen.«

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XXXVI. Kapitel
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    Alaïs vermochte nicht zu sagen, ob sich Saint – Marthe verändert hatte oder lediglich ihr Blick darauf. Schlicht und eng war es ihr immer erschienen, und wenn es Ersteres auch geblieben war, wie ein Gefängnis fühlte es sich nicht mehr an. Als sie in am nächsten Tag durch das Dorf ging, mal ziellos, mal um den Friedhof zu besuchen, hatte sie zwar das Gefühl, sie könne kaum atmen und nie wieder an etwas innigliche Freude finden – aber die Welt deuchte sie hier nicht kleiner zu sein als anderswo. Ray hatte sie bei ihrem Fortgang vor der Fratze der Freiheit gewarnt, doch jetzt schien ihr die Freiheit nicht hässlich, sondern schlichtweg eine Lügnerin. Sie hatte sie gelockt und verführt – und sie schließlich an Kerkerwände laufen lassen, die zuvor dreist geleugnet worden waren.
    Denn dies war das schlimmste Gefängnis, in das sie je gestoßen worden war: dass ihr zum ersten Mal die Sehnsucht fehlte. Dass sie gar nicht erst bedauerte, nicht länger an Sanchos oder Aureis Seite zu leben.
    Sie hatte immer gewusst, was sie nicht wollte – so zu leben wie die Eltern, wie die Brüder, wie die Gleichaltrigen –, aber was sie im Gegenzug anstrebte, war vage geblieben. Es hatte sich aus der Verneinung genährt, der Verneinung von Sitten und Gewohnheiten, nicht von der Suche nach etwas Bestimmtem, vom Feilen an eigenen Talenten. War wirklich eine Fratze das schlimmste Gesicht der Freiheit oder nicht vielmehr das Fehlen von selbiger? Verhieß der Raum, den sich erstreiten mag, wer lange genug an seinen Fesseln zerrt, am Ende womöglich nicht Weite, sondern nur Leere?
    Das dachte sie, als sie bei den Gräbern saß – an dem der kleinen Aurélie, an deren Gesicht sie sich nicht mehr erinnern konnte, an dem von Caterina, die insgeheim wohl glücklich gewesen wäre, wüsste sie die Tochter wieder in der Heimat, und an dem von Ray. Letzteres war vor wenigen Wochen dazugekommen. Gleichwohl er an Worten sparte, hatte Emy ihr zumindest das erzählt. Ein hartnäckiger Husten hatte ihren Vater befallen, schließlich war ein Fieber dazugekommen. Er habe noch mehrere Tage im Bett gelegen – Raymonda sei bei ihm gehockt und er habe ihr trotz Müdigkeit und Schmerzen Geschichten erzählt – und sei dann schließlich eines Morgens gestorben, ebenso gnädig im Schlaf wie Caterina.
    Dumpf hatte Aläis den Worten gelauscht. Bis zu dem Augenblick, da sie sein Grab sah, hatte sie sich den oft lustigen und manchmal wehmütigen, oft wankelmütigen und zugleich treuen, oft spottenden und insgeheim liebenden Vater nicht tot vorstellen können. Dann aber, als sein Tod nicht mehr zu leugnen war, befiel sie keine Trauer, sondern Erleichterung.
    Sie vermisste ihn und den Trost, den er ihr als Einziger hätte spenden können, aber sie war dankbar, dass er mit dem Gedanken an eine Tochter gestorben war, die irgendwo in der Ferne Freiheit und Abenteuer suchte und nicht erschöpft und gescheitert zurückgekehrt war, ohne Pflichten, ohne Ziel, beäugt von neugierigen Dorfbewohnern, die sie gewiss mit Häme übergossen hätten, hätten sie es nur für wert befunden, überhaupt mit ihr zu reden.
    Noch hatte das keiner getan. Erst jetzt, da Alaïs sich von den Gräbern erhob, sah sie nicht weit von sich Dulceta stehen und sie begaffen.
    Dulceta war die Tochter der geschwätzigen Régine, und an ihrem Rock hingen wie eh und je einige grobschlächtige Bälger, mittlerweile – das glaubte sie zu erkennen – eines mehr als vor ihrem Fortgang.
    Alaïs straffte ihre Schultern. So müde, so gebeugt und leer konnte sie sich gar nicht fühlen, um die andere nicht als lästig zu befinden.
    Und jene wiederum war zu geschwätzig, um Alaïs mit Schweigen zu bestrafen wie der Rest des Dorfes. »Dass du dich nicht schämst!«, zischte sie.
    »Was geht’s dich an, was ich getan habe!«
    »Emeric ist ein guter Mann. Er ist der Beste von allen.«
    Alaïs hob überrascht die Augen. Sie hatte nicht erwartet, dass der Tadel über ihren Fortgang sich in Lob für Emy kleiden würde. Sie konnte sich nicht erinnern, dass er in Saint – Marthe jemals besonderes Ansehen genossen hätte. Gewiss, man schätzte ihn, weil er nicht viele Worte machte, aber zupacken konnte. Doch er war ein Fremder geblieben, der nicht zu ihnen gehörte, in gleicher

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